Wie seltsam, nach weit über einem Jahr wieder in einem voll besetzten Konzertsaal zu sitzen, wie seltsam – und wie schön, die gespannte Erwartung eines zweitausendköpfigen Publikums zu spüren, das sich da in Salzburg festlich versammelt, um gemeinsam Musik zu erleben. Sechs Wochen lang wird in diesem Jahr noch einmal das einhundertste Jubiläum der Festspiele gefeiert, weil im vergangenen Sommer die Festlichkeiten durch die Pandemie doch etwas kleiner ausfallen mussten als ursprünglich geplant. Das Orchesterkonzert der Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Christian Thielemann darf schon jetzt als einer der Gipfelpunkte dieses Festspiel-Sommers gelten.
Zunächst gab es die Rückert-Lieder von Gustav Mahler zu hören. Elīna Garanča gestaltete sie eindringlich: Den „linden Duft“ meinte man förmlich zu atmen, wenn sie mit ihrem erlesen timbrierten Mezzo-Sopran zu den leichten Klängen der Flöte, der Oboe und Harfe vom Lindenzweig erzählte, der als ein „Angebinde von lieber Hand“ im Zimmer steht und der „Liebe linden Duft“ verströmt. Herrlich ließ die Garanča ihre Stimme aufblühen, wenn sie Sonne, Frühling und Meerfrau benannte, die um ihrer Schönheit, ihrer Jugend oder ihres Reichtums willen geliebt werden. Melancholisch abgedunkelt und mit großer Innigkeit, zart und zurückgenommen sang sie schließlich mit langem Atem und vorbildlichem Legato davon, dem „Weltgetümmel“ gänzlich abhanden gekommen zu sein. „Ich leb´ allein in meinem Himmel, / In meinem Lieben, in meinem Lied!“
Dass nicht nur Lieder himmlisch sein können, sondern auch ganze Symphonien, zeigte sich im zweiten Teil des Abends. Mit Kathedralen werden Bruckners Schöpfungen immer wieder verglichen. Hans Heinrich Eggebrecht begriff diesen Eindruck als das Resultat einer spezifischen Kompositionsweise, die er als „Additionsverfahren“, als „Zusammensetzung variierter Wiederholungen von Motiven, Themen, Abschnitten und Satzteilen“ charakterisierte, ganz so, als schichte ein Komponist Motiv-Stein auf Motiv-Stein und errichte damit seine klingenden Dome. Manche Dirigenten (an Boulez wäre hier zu denken, vielleicht auch an Harnoncourt) bemühen sich vor allem darum, diese besonderen formalen, sozusagen architektonischen Eigenarten möglichst klar und plastisch zur Geltung zu bringen. Andere Interpreten begreifen Bruckners Musik eher als dramatischen Bewegungsablauf seelischer Konflikte, als Kampf eines musikalischen Subjektes. Zu ihnen gehört Christian Thielemann, dem mit den großartigen Wiener Philharmonikern eine packende Interpretation von Bruckners 7. Symphonie gelang.
Vier der insgesamt neun großen Bruckner-Symphonien hat dieses Spitzenorchester uraufgeführt; die Symphonie Nr. 7 in E-Dur, die bis heute das beliebteste Werk des Komponisten ist, gehört nicht dazu. Gerade sie brachte ihm aber den lang entbehrten Erfolg, zunächst in Leipzig, später auch in Wien, wo dem Werk im März 1886 „unbeschreiblicher Jubel“ entgegengebracht wurde, wie Bruckner selbst berichtete. Anders als bei praktisch allen anderen seiner Symphonien verzichtete der leicht zu verunsichernde Künstler im Falle der Siebten denn auch auf langwierige Umarbeitungen. Nur im Adagio verstärkte er den musikalischen Höhepunkt mit Triangel, Beckenschlag und Pauke. Diese Fassung wird heute meistens gespielt. Auch Thielemann entschied sich dafür.
Die Wiener Philharmoniker musizieren unter seiner Leitung höchst konzentriert und flexibel, sind williges Wachs in seinen formenden Händen, die an diesem Abend immer wieder mit eindringlich wischenden Gebärden und flirrenden Fingern zur Zurückhaltung, zum Pianospiel auffordern. Und wirklich: einen so zarten, klangschön-erlesenen und differenzierten Bruckner gibt es nur ganz selten zu erleben. Liebevoll werden kleinste Details, feinste Nuancen, klangliche und chromatische Abstufungen herausgearbeitet – ohne dass sie dabei zum geschmäcklerischen Selbstzweck werden. Organisch fügen sich die Details in weit gespannte Linien, die stets auf ein Ziel hin angelegt erscheinen. Der satte Klang, den die Wiener entfalten, wird an diesem Abend niemals dick oder zäh, immer bleibt er durchhörbar, konturiert und vielschichtig; Klarheit und Klangfülle schließen sich bei dieser glücklichen Zusammenarbeit von Dirigent und Orchester nicht aus.
Wie feine Silberfäden legen sich die charakteristischen Begleitfiguren der Violinen am Ende des recht langsam gespielten ersten Satzes um die machtvollen Klangentladungen der Bläser. Hörner und Wagnertuben beschließen das Trauermarsch-Adagio mit feierlicher Intensität. Das rhythmisch so markante Scherzo mit seinem auf- und absteigenden Trompetensignal ertönt einmal nicht stampfend mit roher Gewalt, sondern federnd und geschmeidig. Und wenn in der Coda des vierten Satzes das Hauptthema schließlich wiederkehrt und in mehreren, atemberaubenden Steigerungen eine leuchtende, aber eben nicht plump auftrumpfende Apotheose erfährt, so ist das Bruckner-Glück vollkommen. Tiefe Stille im Publikum – und großer Jubel danach. Was für ein Abend!