Audible, Blinkist und Co sind kaum mehr aus dem heutigen Leben wegzudenken. Ob es die Fachbuchzusammenfassung auf dem Rad zur Uni oder der Lieblingsroman mit genüsslich geschlossenen Augen auf der Sonnenliege im Englischen Garten ist, Hörbücher erhalten in vielen Situationen den Vorzug vorm schriftlichen Werk. In einer Welt des Multitasking und der Zeitökonomie ist das „Buch to Go“ ein praktischer Begleiter, ein Kompromiss zwischen Leselust und Zeitoptimierung, könnte man wohl sagen. Doch nicht nur diese Gründe sprechen für das sogenannte oral-auditive Medium: Es hat gerade im Feld der Literatur noch ganz andere Qualitäten. Das zeigt ein Blick auf den Autor und Vorleser Thomas Mann.
Thomas Mann als Vorleser – Ein Überblick
„Ich mache Triumphreisen. Ich besuche die Städte, eingeladen von schöngeistigen Gesellschaften, ich erscheine im Frack, und die Leute klatschen in die Hände, wenn ich nur auftrete“, schreibt Thomas Mann 1907 in einer autobiographischen Skizze, und trotz der ironischen Ausdrucksweise benennt dies das Ausmaß und den Erfolg seiner Lesetourneen recht treffend. Gerade nach den Buddenbrooks wird Mann häufig zu Lesungen eingeladen und kommt dem mit Freude nach. Seine Vortragsreisen führen ihn zwischen 1906 und 1911 nach Prag, Basel, Breslau, Brüssel und Budapest sowie quer durch Deutschland. Doch die Live-Lesungen sollten nicht die einzige Schaubühne bleiben, auf der Mann seine Lesekunst anbrachte. Er gehörte auch zu den ersten Autoren, die Radio und Rundfunk für sich nutzten. Bereits wenige Monate nach der Einführung des deutschen Rundfunks wird 1924 eine Lesung aus dem Zauberberg gesendet, und in den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg folgt eine Vielzahl weiterer Radiolesungen. Ab 1929 nahm er zudem Schallplatten auf und stand im selben Jahr für die wohl erste Tonfilmaufnahme eines deutschen Autors vor der Kamera. Letztere ist auf YouTube verfügbar und wurde bisher über 75.000 Mal angesehen.
Zwar zeigt allein diese intensive Nutzung oral-auditiver Medien die Bedeutsamkeit des Vorlesens für den Autor Thomas Mann, doch bei genauerer Betrachtung ist die Rezeption hier nur die eine Seite der Medaille. Mann weist immer wieder auf die Abhängigkeit seiner Erzählkunst von der Vortragskunst hin. Spielte das Vorlesen also auch schon im Schaffensprozess seiner Werke eine Rolle?
Write – Read – Sleep and Repeat: Vorlesen im Schaffensprozess
„Hatte er einen größeren Abschnitt fertig, las er ihn mir, später auch den Kindern im Familienkreise vor. Er tat das sehr gerne. Es regte ihn an, es zu hören und die Wirkung zu sehen. So gut wie er konnte niemand seine Sachen vorlesen. [...] Diese Vorlesungen waren für ihn eine Art Probe“, berichtet Manns Ehefrau Katia später. Klangliche Harmonie und eine geschmeidige Rhythmik im Vorlesen zu erreichen, gehörte zu Manns Techniken, einen Text zu schleifen und zu überarbeiten. Ein wichtiges Kriterium für die Qualität seiner Texte war daher die Reaktion der Zuhörenden. „Wenn wir gelacht haben, es ist ja oft sehr komisch, dann hat er sich diebisch gefreut, und wenn wir Tränen in den Augen hatten, dann war er ganz glücklich. Des übrigen hat er sogar unsere Kritik gewollt. […] Und er hat sich danach bis zu der gewissen Grade auch gerichtet“, erinnert sich Erika Mann. Das Vorlesen war damit nicht nur Instrument der Qualitätsprüfung, sondern hatte zugleich ein inspirierendes und motivierendes Moment, das Manns Schaffensprozess vorantrieb. Nicht ohne Hintergrund erscheint so die Aussage des Protagonisten Felix Krull in Manns Hochstaplerroman, er würde „beim Schreiben auch der lesenden Welt einige Rücksicht zuwende und ohne die stärkende Hoffnung auf [deren] Teilnahme, [deren] Beifall, [besäße er wohl] nicht [...] die Beharrlichkeit“ (HK, S. 63), die Arbeit fortzuführen. Diese Aussage eröffnet noch einen zusätzlichen Raum, in dem das Vorlesen offenbar Manns Schaffenspraxis zugutekam: die Fantasie.
Das Fantasie-Publikum
Krulls Aussage folgend, ist die Vortragssituation nicht erst von Bedeutung, nachdem die ersten Zeilen ihren Weg aufs Papier gefunden haben, vielmehr spielt sie als Fantasie schon im Inspirationsmoment und dem ersten Schreibakt eine richtungsweisende Rolle. Auch von Thomas Mann ist bekannt, wie sehr er die Selbstbestätigung bei Lesungen genoss, sodass der Gedanke naheliegt, dass diese sogenannte „Opus-Phantasie“ ein wirksames Element in seiner Schreibmotivation gewesen sein könnte. Die phantasierte Vortragssituation wirkt als „Selektions- und Mutationsinstanz“. Der Autor wählt und entwickelt seine Idee mit ihrer Hilfe, sodass es wenig verwundert, dass das Oral-Auditive selbst innerhalb der Schriftform von Manns Texten präsent ist.
Schriftliche Klangkunst
Thomas Manns Aussage, er sei ein „in die Literatur versetzter Musiker“, mag auf den ersten Blick verwundern, doch beim Lauschen der überlieferten Lesungspassagen wird schnell deutlich, was hiermit gemeint ist. Die gekonnte Betonung der direkten Rede verschiedener Charaktere, ihr individueller Sprachstil samt den persönlichen Besonderheiten, Dialekten und Soziolekten macht das Zuhören zu einem beinah plastischen Erlebnis. Besonders markant werden diese Techniken in der frei verfügbaren Lesung der Musterungsszene ebenfalls aus dem Krull-Roman* oder in den Sprechpassagen von Tony Buddenbrooks zweitem Ehemann Permaneder, der über seine bayrisch-derbe Mundart (z.B. „Geh' zum Deifi, Saulud'r, dreckats!“) mit zusätzlichen Wesensmerkmalen ausgestattet wird. Ein weiteres Beispiel ist der onkelhafte Doktor, der den kleinen Felix Krull untersucht, als dieser eine Krankheit vortäuscht:
„Jedesmal, wenn er sich unter den üblichen onkelhaften Doktor-Redensarten, wie zum Beispiel: ‚Ei, ei, was machen wir da?‘ oder: ‚Was sind denn das für Sachen?‘ meinem Bette genährt [...] hatte [...] kam der Augenblick, wo [ein Zeichen] mich aufforderte [...] ihm [...] auf dieselbe Weise zu erwidern und mich ihm als ‚schulkrank‘ [...] zu bekennen.“ (HK, S. 44)
Mann hebt die Stimmen der Figuren beim Lesen deutlich von der Erzählstimme ab. Seine stimmliche Variation wirkt als zusätzliche Ebene der Charakterisierung und Textordnung und bewegt sich in einem Bereich zwischen Lesung und Theater. Während er die Erzählerstimme klar, teils ironisch, teils reflektierend hervorbringt, schöpft er in Dialogen aus dem Vollen, spricht mal nasal, dann wieder spitz, hier polternd, da stotternd, so wie es den gemimten Personen eben eigen ist. Diese Prosodie ergänzt den Text um eine weitere Ebene, er wird gleichsam dreidimensional, tritt den Hörenden vors innere Auge. Vielleicht liegt Manns Modernität gerade in diesem Moment, dass sein Ausbruch aus dem reinen „Lesewerk“, der Weg hin zu Schallplatte und Film schon im Schriftwerk angelegt ist.
Die Stimme des Autors
Die besondere Situation der Autorenlesung eröffnet zudem einen Blick auf das Verhältnis des Autors zu diesem. Während andere Autoren distanziert, reflektierend, wie von einer höheren Ebene auf das abgeschlossene Werk schauend lesen, schlüpft Mann förmlich in den Text. Er spielt mit der Nähe seiner Person zu seinen Protagonisten, was insbesondere in Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, einem seiner bevorzugten Lesetexte, deutlich wird. Hier macht Mann nicht nur sich selbst zu einem Teil der erzählten Welt, er saugt auch die Zuhörenden förmlich ein, indem er sie mit denselben Fängen umspielt, wie der Hochstapler seine Bekanntschaften. Indem Mann wie bereits dargestellt die Dialogebene mit direkter Sprache von der Erzählstimme durch unterschiedliche stimmliche Gestaltung abgrenzt, lenkt er die Wahrnehmung der Zuhörenden. An vielen Stellen wird erst ein Ausschnitt in direkter Rede scheinbar objektiv hervorgebracht, und direkt anschließend kommentiert die Erzählstimme, was sie wahrnimmt und wie sie dies einordnet. Erkennbar wird diese Technik ebenfalls in der Krankheitsszene, wenn Krull beschreibt, wie überzeugend er als Junge seine Mutter zu täuschen wusste:
„-Was mir fehlte, fragte sie. – ‚Kopf... Gliederweh... Warum friert es mich so?‘, antwortete ich eintönig und gleichsam mit gelähmten Lippen, indem ich mich unruhig von einer Seite auf die andere warf.“ (HK, S. 41)
Zwar wird dem Zuhörer der Eindruck vermittelt, er höre den fiebernden Felix mit eigenen Ohren, doch ist bereits diese Wahrnehmung durch die Sinne des erzählenden Hochstaplers gefiltert und wird durch dessen kommentierende Einbettung nochmals bestätigt. Das schwächelnde Abbrechen der Stimme und die ziellos in den Raum geflüsterte Frage drücken eben jenen Zustand des unruhigen Fiebers aus, den der Erzähler hiernach benennt. Was liegt da einem Zuhörenden näher, als unbedacht zum selben Urteil zu kommen wie die Erzählstimme? So haben die Zuhörenden nicht selbst die Freiheit, das Gehörte zu beurteilen, vielmehr gibt die Erzählinstanz ihnen die Vorlage, in welche Schubladen es einzuordnen sei. Damit wird die Perspektive der Hörenden so geprägt, dass sie stets mit dem Erzähler konform gehen müssen. Insbesondere für den Hochstaplerroman ist dieses über den Text hinausweisende Verhalten bedeutsam, denn es lässt die Tentakeln des Hochstaplers geradewegs aus dem Buch in die Realität ausschlagen. Die gleiche Meinung zu haben, ist ein zentrales psychologisches Instrument, mit dem Hochstapler Sympathie und Zutrauen bei ihren Opfern erwecken und eben jene individuell wirksame Manipulation wird über die öffentliche Lesesituation in die Massenwirksamkeit übertragen.
Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull – ein Roman seiner Zeit?
Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull entstanden zwischen den Jahren 1911 und 1953. Die Werkgenese umschließt mithin die Zeit des Nationalsozialismus, während der gerade das Radio als zentrales Propagandainstrument genutzt wurde. Auch Thomas Mann nutzte diesen Kanal, um sich von Amerika aus mit Botschaften des Widerstands gegen Hitler an die deutschen Hörer zu wenden. Zwar handelt der Bekenntnisroman selbst im ausgehenden 19. Jahrhundert, aber er spielt mit sprachlicher Manipulation, die in der Situation der Lesungen auch am Publikum wirksam werden. Durch das Vorlesen gewinnt dieser Roman eine politische Botschaft und weist auf die Beeinflussbarkeit einer Menschenmenge durch einen wortgewandten Tongeber und den hochstaplerischen Kern von Massenmanipulation hin. Das Vorlesen spielt somit nicht nur im Schaffen und in der Rezeption, sondern auch in der Einordnung und Interpretation eine entscheidende Rolle.
Ein Fazit
An Thomas Mann wird deutlich, dass Vorlesen weit mehr ist als ein gemütlicher Rezeptionsweg. Es begleitete den Autor vom ganz persönlichen Inspirationsmoment über die höchste Zurückgezogenheit in der stillen Schreibstube bis hin zur höchsten Öffentlichkeit in realen Lesungen, medialen Aufnahmen und sogar auf YouTube. In der Inspiration und dem Schaffensprozess erfüllte das Vorlesen hier die Rolle einer Motivation und half, den Text in seine klangliche Zielform zu bringen. Der Text wird als Botschaft vom Autor hin zum Zuhörer greifbar, denn offensichtlich spielten die Affekte und die Wirkung seiner Schriften auf die Rezipienten für Mann eine wichtige Rolle. Es scheint, als könne Mann erst in der stimmlichen Ausfertigung seiner Texte all das ausdrücken, was er als Teil seines Kunstwerkes angelegt hat. Erst im Vorlesen kommen seine Werke zu ihrer vollen Entfaltung. Auch für den Rezipienten ist demnach das Anhören solcher Hörbücher ein zusätzlicher Gewinn, denn erst dieser Rezeptionsweg macht das Kunstwerk ganzheitlich als solches sichtbar. Das führt auch dazu, dass zusätzliche Dimensionen der Interpretation und des Textverständnisses eröffnet werden und die schon bestehenden Interpretationen erweitert, vertieft oder sogar kritisiert werden können. In Anbetracht dessen, dass die meisten Romane primär als Lesewerk betrachtet werden, bietet diese Beobachtung Anlass, den oral-auditiven Zugang in seiner Gleichwertigkeit zum Schriftwerk zu schätzen und zu nutzen. Oder, anders gesagt: neben dem dicken Wälzer auch gerne mal die Kopfhörer zu nutzen!
Verweise:
*Musterungsszene: https://www.youtube.com/watch?v=stxGUtbMe6s
**Tonfilmaufnahme: https://www.youtube.com/watch?v=47neW--DWEY
Quellen:
Meyer-Kalkus, Reinhart: Geschichte der literarischen Vortragskunst. Stuttgart: J.B. Metzler 2020, S. 653-680.
Mann, Thomas: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2014. (Abgekürzt als HK)