Gewiss hatte Krzysztof Warlikowski viele kluge Gedanken zu Wagners „opus metaphysicum“ (Nietzsche): Dass die beiden Protagonisten „von Anfang an mit dem Tod verbunden“ sind, dass sie „einer traumatisierten Generation“ angehören, dass ihre Vorgeschichte und Vergangenheit „eine Rolle wie in kaum einer anderen Oper“ spielen, dass „Tristans Einsamkeit“ eine große Bedeutung hat und dass es bei der Liebe zwischen ihm und Isolde letztlich um „die mögliche Aufhebung der Grenzen individuellen Seins“ geht, dies alles (und noch manches mehr) erfährt man bei der Lektüre eines Aufsatzes, den der Regisseur fürs Programmbuch der Premiere seiner Arbeit an der Bayerischen Staatsoper beigetragen hat.
Leider findet Warlikowski in seiner Inszenierung, die am 4. Juli Premiere feierte, keine Bilder für seine theoretischen An- und Einsichten. In einem nichtssagenden, mit dunklem Holz getäfelten Raum (Małgorzata Szczęśniak zeichnet für Bühne und Kostüme verantwortlich) sitzen die Sänger apathisch in schweren Ledersesseln, legen sich ab und an auf ein Sofa, das an Freuds berühmte Couch erinnert, oder stehen regungslos im Bühnenhintergrund, was sich bei der dramatischen Zuspitzung zwischen Melot (engagiert: Sean Michael Plumb) und Kurwenal (ausdrucksstark: Wolfgang Koch) im dritten Aufzug als besonders fatal erweist. Ereignet sich auf der Bühne ausnahmsweise aber doch einmal etwas, so bleiben Warlikoskis Einfälle unklar oder unbedeutend. Die Filmsequenzen, die auf einer sich gelegentlich herabsenkenden Zwischenwand zu sehen sind, wollen Tiefe suggerieren, sind aber doch nur belanglos, und die Verdoppelung der Figuren im dritten Aufzug durch Puppen ist so unergiebig wie das Auftreten eines hutzeligen Männleins, das ab und an über die Bühne kraucht. Die Lust, die szenischen Rätsel zu lösen, die Warlikowski dem Publikum so gerne aufgibt, schwindet mit jeder neuen Inszenierung, die der vielbeschäftigte Mann vorlegt.
Gottlob setzen Kirill Petrenko und das Bayerische Staatsorchester dieser szenischen Ödnis eine bemerkenswert frische Lesart des „Tristan“ entgegen: Eher hell im Klang, stets transparent, vor allem aber ungemein detailreich bringen die phantastischen Musiker die Feinheiten und den Farbenreichtum der Partitur zum Klingen, setzen dabei aber immer wieder kraftvolle, markige Akzente, die dem Ungestüm dieser Musik entsprechen. Ein wenig mehr Pathos hätte dem Abend freilich nicht geschadet, ist doch das Sehrende, Schmachtende, Schmerzliche ein nicht unwesentliches Charakteristikum gerade dieser Oper. Petrenkos „Tristan“ ist eher kontrolliert als ekstatisch; dass sich das Orchester unter seiner Leitung bis zu einer weißglühenden Intensität steigert, wie es bei großen Thielemann-Abenden zuweilen vorkommt, ist kaum der Fall. Das Vorspiel etwa blieb bei aller Klangschönheit merkwürdig kühl und spannungsarm.
Dass auch die Schluss-Szene nicht überzeugte, liegt indes weniger an Petrenko als vielmehr an Anja Harteros, die mit dieser Produktion ihr Debüt als Isolde gab. Bewundernswert differenziert gelingt ihr die Ausgestaltung der Rolle vor allem im ersten Aufzug, wenn sie die tiefe Verletzung Isoldes auch durch ironische Töne im Dialog mit Brangäne hörbar macht. Leuchtende Höhen und klangsinnliche Momente gewinnt sie ihrer Partie im großen Duett mit Tristan ab, unterbrochen durch die herrlichen „Habet-Acht-Rufe“ ihrer getreuen Dienerin, der Okka von der Damerau betörenden Schmelz verleiht. Leider fehlt ihr für den Liebestod am Ende dann ein wenig die Kraft, so dass forciert wirkt, was ekstatisch sein müsste. Mit den großen, fieberhaften Ausbrüchen im dritten Aufzug hat (natürlich) auch der Tristan von Jonas Kaufmann einige Mühe. Dafür gelingen ihm die lyrischen Passagen ausgesprochen gut. Sein dunkel gefärbter, farbenreicher Tenor ist klar, kraftvoll und gut fokussiert, vor allem aber weniger gaumig als noch vor einiger Zeit. So findet er berührend zarte Ausdrücke gerade im riesenhaften Zwiegesang mit Isolde, nach der er in Warlikowskis Deutung ein einziges Mal die Hand ausstrecken darf, ohne sie aber zu berühren. Marke, der hintergangene Freund und König, unterbricht die metaphysischen Spekulationen der beiden Liebenden, ihren Disput über das süße Wörtlein „und“, ihr Glück, dem „Wunderreich der Nacht“ anzugehören, und klagt über Verrat, Treulosigkeit und seiner Ehren Ende. Mika Kares singt diesen Part mit profundem, schön gerundetem Bass, bleibt im Ausdruck aber (noch) hinter seinen berühmten Vorgängern Kurt Moll oder Martti Talvela zurück. Großen Jubel gab es für die Sänger am Ende allesamt, den größten indes für das Bayerische Staatsorchester, das Kirill Petrenko (ungeachtet aller Kritik im Detail) während seiner Zeit als Generalmusikdirektor immer wieder zu Höchstleistungen animierte. Man wird ihn vermissen in München. Sein Nachfolger hat große Fußstapfen zu füllen.