Als John Neumeier als Tänzer von London nach Stuttgart wechselte, war John Crankos „Romeo und Julia, 1962 uraufgeführt, noch ganz jung. Dass er nur wenige Jahre später eine eigene Fassung als abendfüllendes Ballett auf die Bühne brachte, zeugt nicht nur von der Unerschrockenheit des jungen Mannes, sondern auch von seinem Ausdruckswillen. Und tatsächlich gelang es ihm in Frankfurt 1971, wo er inzwischen zum Ballett-Direktor geworden war, die Geschichte anders zu erzählen als sein großer Stuttgarter Lehrmeister, und das, obwohl auch er die Musik Prokofjews nutzte und wiederum Jürgen Rose für Bühnen- und Kostümbilder verantwortlich war. Näher am Original sollte seine Fassung sein, psychologisch noch ausdifferenzierter und glaubhafter. Über 50 Jahre sind seitdem vergangen – und beide Fassungen, die von Cranko so gut wie die Neumeiersche, konnten, sicher auch dank der bestechend schönen Ausstattung, ihre Frische und Schönheit bewahren.
Dass die jetzt in Hamburg gezeigte Aufführung zu einem herausragenden Erlebnis wurde, verdankt sie einer fabelhaften jungen Besetzung. Louis Musin, 2002 in Brasilien geboren und seit diesem Jahr Solist in Neumeiers Weltklasse-Ensemble, ist ein ausdrucksstarker Romeo, der dessen emotionale Schattierungen differenziert und jederzeit nachvollziehbar auszudrücken versteht und dabei zur lyrischen Emphase ebenso fähig ist wie zu übermütigem Draufgängertum. Zunächst erlebt man ihn in einer melancholisch-träumerischen Stimmung am frühen Morgen in Verona. Aber es ist noch nicht Julia, nach der Romeo sich sehnt, sondern (wie bei Shakespeare) Rosalinde, die Cousine Julias. So findet Pater Lorenzo, den Lennard Giesenberg mit weichen Gesten und sozusagen keuscher Anmut darstellt, den Schlafenden vor dem Hause der Capulets.
Erst später trifft er auf Julia. Azul Ardizzone, 2007 in Argentinien geboren und derzeit noch Mitglied der Hamburger Ballettschule, stellt diese Partie mit hinreißend jugendlicher Leidenschaft und Unbekümmertheit dar. Anfangs ist sie noch fast ein Kind, das ungestüm und auch ein wenig ungelenk die Treppe herabstürmt. Ihre mondänen Eltern (Priscilla Tselikova und Matias Oberlin) wollen sie einführen in die vornehme Gesellschaft von Verona, die sich mit weit ausladenden Schritten, zurückgeworfenen Oberkörpern und genau abgezirkelten Handbewegungen von strengen Formen bestimmt zeigt. Beim abendlichen Ball (hier glänzt das Hamburger Ensemble durch eine Fülle sprechender, auch witziger Details) vergisst Julia gleichwohl immer wieder ihre Schritte, so dass der Tanz mit dem für sie bestimmten Grafen Paris (Florian Pohl als nobler und sicherer Partner) noch nicht so ganz ins Schema passt. Und dann stolpert sie über Romeo. Eine zufällige, fast unscheinbare Begegnung – aber wie die beiden jungen Tänzer sich gegenüberstehen und anblicken, verrät die Spannung, die zwischen ihnen herrscht. Auch später, wenn beide nach dem Ende des Festes in Capulets Hof wieder aufeinandertreffen, sind es die zarten, innigen und dabei von Energie geladenen Momente, die besonders anrühren. Mit Romeo lernt Julia das Tanzen. Aber nicht in abgegriffenen Formeln und hergebrachten Wendungen, sondern in Bewegungen, die aus Ihrem Inneren kommen. Es ist gleichsam die Geburt des Tanzes aus dem Geist der Liebe, die Neumeier hier vorführt.
Was diese Liebenden einander sind, zeigt er mit einer schlichten, aber bedeutsamen Geste. Wenn Pater Lorenzo die beiden vermählt und sich in Andacht zu Gott wendet, so richten Romeo und Julia ihr Gebet nicht nach oben, sondern gleichsam dem anderen zu. Die Volksfestszene, die folgt, kontrastiert mit solcher Zartheit drastisch und bietet Romeos Freunden Gelegenheit, tänzerisch zu brillieren: Francesco Cortese zeigt einen eleganten und leichtfüßigen Benvolio, Alessandro Frola gibt einen gefährlich-übermütigen Mercutio. Der Streit mit dem rauflustigen und seelisch dunkleren Tybalt (bravourös: Artem Prokopchuk) bleibt nicht aus, und Mercutios Todeskampf wird zu einer der großen Szenen des Abends. Romeo, der den Tod seines Freundes mit dem Furor der Verzweiflung rächt, muss in die Verbannung, und Julia bleibt nichts, als den Trank zu schlucken, den Pater Lorenzo ihr gibt. Dass damit die Hoffnung auf eine schöne, beseligende Zukunft zu zweit verbunden ist, zeigt die glückliche Szenerie im Hintergrund der Bühne als Vision Julias. Mit welcher Hingabe Azul Ardizzone dann aber Julias Verzweiflung darstellt, wie sie den Schmerz beim Abschied von Romeo ausdrückt, wie das Entsetzen beim Erwachen in der düsteren Gruft, wo gleich neben ihrem Lager der Leichnam Tybalts gebettet liegt, so dass sie in wilder Furcht einfach davonlaufen möchte, das Gitter aber verschlossen findet und dann erst den toten Romeo bemerkt, dessen schlaffe Hand der ihren entgleitet, das alles verdient höchste Bewunderung. Was für ein Abend! Welches Glück!