„Tuntschi. Eine Häutung“ in den Vidmarhallen
„Tuntschi. Eine Häutung“ in den Vidmarhallen
Bern, 16. September 2021, Bernhard Metz

Die Idee ist schon mal gut: Vier österreichische Autorinnen, Lydia Haider, Barbi Marković, Maria Muhar und Stefanie Sargnagel, die sich in Lockdown-Zeiten (und davor) als neue, rotzige Feministinnen und interessante Schreiberinnen profiliert haben und Teil einer Künstlerinnengruppe sind, von Wien nach Bern zu holen und ein Stück schreiben zu lassen. Noch besser ist, was als Theaterproduktion an den Bühnen Bern in den Vidmarhallen zu sehen ist: Tuntschi. Eine Häutung (Premiere 10. September, Vorstellungen bis 30. Dezember 2021). Auch, weil die zugrundeliegende Sage, wie bei Märchen, Mythen und Sagen üblich, keine rein schweizerische ist, sondern sich im Alpenraum in verschiedenen Regionen und Ländern in der ein oder anderen Version wiederfindet und als erstaunlich anschlussfähig erweist.

Die Sage vom Sennentuntschi transformiert den Pygmalion-Mythos drastisch in die Alm- und Weidewirtschaft des Alpenraums. Ein oder mehrere Älpler, Sennen oder Hirten (immer männlich), basteln sich zum Zeitvertreib aus Stroh, Stoff oder anderen Materialien eine Puppe, ein Sennentuntschi oder Sennpoppa, mit dem sie reden, essen, zusammenleben und schließlich Tisch und Bett teilen. Die Dialogprothese (und Sexpuppe) – es kommt zum religiösen Frevel – wird getauft und/oder animiert/beseelt/verlebendigt (oder dies geschieht durch Einwirken äußerer Kräfte); entwickelt einen eigenen Willen, auch unstillbaren sexuellen Appetit, was den/die Schöpfer überfordert: Protect me from what I want. Still und ruhig lief’s besser, Szenen einer Ehe. Das Sennentuntschi soll weg, aktiv durch Zerstückeln oder Verbrennen, passiv durch Zurücklassen; anderntags ist die Puppe aber wieder intakt und lebendig und fordert, was ihr zuvor abverlangt wurde. Als die Trennung beim Almabtrieb unaufschiebbar wird, besteht das Geschöpf darauf, einen/alle Liebhaber zurückzubehalten; die Objekte der Begierde werden durch Tötung, in ärgeren Varianten Folterung und Hautabziehen vom Weggang abgehalten. Liebe kann richtig weh tun. Wer rasch das Weite sucht, entkommt, meist der Jüngste; den Letzten und Verkommensten häutet das Tuntschi.

Was so grauenvoll klingt, scheint es hinsichtlich solcher Berglerpuppen wirklich gegeben zu haben. Ein Exemplar (mit Frauenhaar und vergrößertem Mund) wird im Rätischen Museum in Chur ausgestellt mit dem Vermerk: „Diente dem Alppersonal als Ersatzfrau“. 1978 wurde dieses Tuntschi vom Volkskundestudenten Peter Egloff in Cauco im Calancatal erworben. Man kann die Sage unterschiedlich wiedergeben. So verfasste der schweizer Schriftsteller Hansjörg Schneider ein Schauspiel in Aargauer Mundart, 1972 am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt (Regie Reto Babst), 1981 in Schneiders Regie als Fernsehspiel verfilmt und bis heute schweizweit gespielt. Nach der Fernsehausstrahlung kam es zum Skandal und u.a. zu Anzeigen wegen Gotteslästerung. Die Kopplung von Alpenwelt und Missbrauchsgeschichte, Heimatstück und Rape & Revenge-Story war der damaligen Mehrheitsgesellschaft zu krass, hat aber noch heute Potential zum Aufreger. Der zentral repetierte Satz des TuntschiChum cho vögle!“ war für das Theater- und Fernsehpublikum aus dem Mund eines weiblichen Wesens skandalös und schockierend. Vom blutigen Ende ganz abgesehen.

Auf Grundlage von Schneiders Sennentuntschi komponierte Jost Meier eine selten aufgeführte zweistündige Oper (Libretto Martin Markun; Uraufführung 1983 in Freiburg unter Hans Urbanek, inszeniert von Martin Markun). Weitere auch hochliterarische Bearbeitungen folgten, zudem zwei nicht jugendfreie Verfilmungen: eine deutsche von 1989 durch Georg Tressler, an der auch Christoph Schlingensief als Regieassistent beteiligt war, ein aberwitziger Sexploitation-Trash-Horror-Albtraum: Sukkubus. Den Teufel im Leib mit Pamela Prati in der Hauptrolle und Peter Simonischek – mit falschen Zähnen wie später in Toni Erdmann – als Senn (der Film war jahrzehntelang indiziert; für Oktober 2021 ist erstmalig ein DVD/BD-Release geplant). Sowie eine ins Mystery-/Horrorgenre ragende schweizerische Verfilmung durch den bekannten Regisseur Michael Steiner (Mein Name ist Eugen, Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse). Die war 2010 trotz Schweizerdeutsch erfolgreichster Film in der Gesamtschweiz; für einen FSK16-klassifizierten nicht familientauglichen Film beachtlich. Schneiders Theaterstück Sennentuntschi verblieb im Repertoire und wurde etwa in Bern 2009 am Stadttheater aufgeführt (Regie Elias Perrig). Die kürzeste und zugleich neueste Bearbeitung der Sage findet sich im Programmheft zu Tuntschi. Eine Häutung. Barbi Marković schreibt aus feministischer Perspektive schadenfreudig – sonst wird immer von Männern nacherzählt:

„Die Sage geht in etwa so: Angeblich haben vier einsame, eklige Sennen eine Puppe gemacht und mit Schnaps getauft, und weil die Berge verrückt sind, ist die Puppe wirklich zum Leben erwacht. Zu einer Art Leben, um Kaffee zu kochen und mit den vier Männern zu ficken. Später haben sie ihr noch Käse über die Lippen geschmiert, da hat sie begonnen zu reden, aber das Reden ging den Sennen sofort auf die Nerven, und sie haben die Puppe zerstückelt und vor der Hütte in alle Richtungen zerstreut. Am nächsten Tag kam sie wieder, begann Kaffee zu kochen und zu ficken, hin und wieder zu reden. Und so sind drei Monate vergangen. Der Sommer war aus. Die Sennen mussten wieder runter zu ihren Ehefrauen und wollten sich von der Puppe verabschieden. Sie hatten an dem Tag ein schlechtes Gefühl, und es war richtig, sich Sorgen zu machen. Die Puppe meinte: Stopp, wo wollt ihr hin? Und sie warf den ersten Mann den Hang runter, dass er sich alles brach, dem Zweiten brach sie den Hals, stopfte den Dritten in den Brunnen. Den Unsympathischsten, den Vierten, bewahrte sie bis zum Ende auf, damit er alles sah. Und dann wurde der Unsympathischste geschlachtet und gehäutet, und seine Haut wurde vor der Hütte zum Trocknen gespannt. Happy End.“

Strukturanalytisch gibt es demnach ein oder mehrere Älpler/Bergler (meist in hierarchischer Stufung: älterer Verantwortungsträger, der Recht und Gesetz verkörpert, warnt und bremsend eingreift; mittlerer Aufsteiger, der alles vorantreibt und die schlimmsten Übergriffe provoziert; jüngerer Naiv-Unschuldiger, der oftmals entkommt und die Begebenheiten bezeugt und weitererzählt); diese fertigen sich aus Einsamkeit/Langweile/Kommunikationsbedürfnis/Triebstau eine Puppe an, der dialogische/haushälterische/sexuelle Dienstleistungen abverlangt werden. Miserable Behandlung und/oder Verlebendigung/Beseelung (auch Taufe) konstituieren den Frevel, der – die Rechnung wird am Ende fällig – dadurch heimgezahlt wird, dass ein (der langsamste, übergriffigste) oder alle Männer auf der Alm verbleiben müssen (mit oder ohne Tötung/Folterung/Häutung) bzw. einer/mehrere davonkommen. Die Puppe rächt sich bzw. übernimmt Schadensfunktionen, wie sie sonst Berghexen und weiblichen Dämonen zugeschrieben werden. Für die Ethnologin Silvia Conzett ist alles eine Warnsage, die von der Kirche verbreitet wurde, um Verbote und Normen zu installieren; heute fragt man sich, warum die Männer nicht andere Wege finden, um ihre kommunikativen und sexuellen Bedürfnissen zu befriedigen; entsprechend spielt sich alles im heteronormativen christlichen Rahmen ab, wo Homosexualität oder Sodomie keine Alternativen darstellen. Wie Adam einer Gefährtin bedarf („Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei“), erschaffen sich die Männer – ohne Gottes Hilfe – eine Frau. Eine Grenzüberschreitung; da kommt die Pygmalion-Mythe zurück.

Nun scheint in der Schweiz eine Obsession zu bestehen, diese Sennentuntschi-Sage immer und immer wieder durchzuarbeiten. Aber selten aus feministischer Perspektive. Das geschieht nun. Haider, Marković, Muhar und Sargnagel, Teil der „Wiener Grippe/KW77“, wurden im Dezember 2020 nach Bern eingeladen, vom Schauspieldirektor Roger Vontobel in dessen alten Volvo gesetzt und sollten zu Recherchezwecken herumreisen, Ziele u.a. Chur, Calancatal und Bern, Arbeitsauftrag ein Theaterstück über die Tuntschi-Sage. Ein Kulturtransfer; was können uns andere Alpenvölker über unseren gemeinsamen Mythos erzählen? Was lassen wir uns von jungen Frauen erzählen? Saisonarbeiterinnen, die zur Auftragsarbeit einreisen, ihre Schreibarbeit abliefern und wieder zurückgehen? Sargnagel & Co. nehmen alles wörtlich, packen sich eine männliche Sexpuppe als Reisetuntschi ein und besteigen das Flugzeug: eine elfseitige Photostory bzw. „fotografisches Reisetagebuch von Apollonia Bitzan“, auch diese gehört der „Wiener Grippe/KW77“ an, ist zentral im Programm abgedruckt, am Schluss sieht man die Sexpuppe vor dem Bundeshaus karussellfahren).

Diese Reise inklusive Intendantengespräch, Museumsbesuch und Almübernachtungen bildet den Rahmen des von Sara Ostertag inszenierten Stücks, Jeanne Devos, Lucia Kotikova und Isabelle Menke spielen drei Frauen/Autorinnen/Sennerinnen/Reisende mit einem von David Berger verkörperten Tuntschi im Gepäck (Bühne und Kostüme Nanna Neudeck), angereichert durch Reden über aktuelle Streitpunkte zu den Themen Geschlechtergerechtigkeit, Gewalt, Familienpolitik, Erziehungsausrichtungen, Kulturkampf. Alle schliddern und laufen auf den Bühnenaufbauten herum, die wie beim Abenteuerspielplatz schwarze Rutschbahnen bilden, aber auch von innen begehbar sind und an abstrakte Alpenumrisse erinnern wie in frühen expressionistischen Stummfilmen. Nur stumm agieren Nola Friedrich und Maria Goletz und stellen in Fell und Haut Alpenwesen dar, die, zwischen Perchten und Angehörigen der wilden Jagd angesiedelt, angsteinflössend wirken, mit Kuhglocken und Sensen. Archaische Auftritte weiblicher Urwesen, Berghexen oder eben Tuntschis.

Nun haben die vier Autorinnen im Kampf gegen Internettrolls, Kronen-Zeitung und Netzhetze schlimme Erfahrungen gesammelt (Stichwort „Babykatzengate“ 2017); die interessanteste Konsequenz daraus ist, dass durch Jonas Dumke und Timo Jander auch diesen Positionen eine Stimme und ein Körper verliehen wird (Dumke und Jander spielen mit riesigen abstrakten Puppenköpfen versiert auch weitere Rollen wie Intendanten, Hütten- und Hotelpersonal etc.). Auch das ist Puppenspiel und weibliche Schöpferkraft; die Monster sind die anderen. Die Folge ist, dass wir schockierende Einblicke in Denkweise, Kommunikationsformen und Vokabular der Incel-Culture (Involuntary Celibates) erhalten, ins Innerste dessen eintauchen, was als toxic masculinity in den letzten Jahren gesellschaftspolitisch für Aufsehen sorgte. Teilweise ist es schrecklich, den frauenfeindlichen Äußerungen der beiden Sprechmasken zuzuhören, die auf nur mit neonfarbenen Höschen angezogenen Männerkörpern sitzen, dann wieder ist immerwährende Wiederholung bewährtes Mittel, um den Wahnsinn auszustellen, der durch Betonung und Zitation ins Lächerliche und Lustige umkippt. Hier evoziert Tuntschi den speziellen Jelinek-Theater-Sound; wer die böse Nicht-Ironie in der Figurenrede eines Elfriede-Jelinek-Stücks unerträglich findet, wird hier noch stärker belastet. Tuntschi. Eine Häutung ist auch Selbstvorführung misogyner Diskurse.

Zu Beginn gibt es mit Jelena Popržan eine vierte Person auf der Bühne, die als Conferencière und Rahmenerzählerin einführt und etwa als Pilotin und Reisebegleiterin die Tuntschi-Expedition von Wien in die Schweiz geleitet; leider wird das nicht beibehalten und Popržan verschwindet später im Hintergrund. Sie ist eine tolle Performerin und Bratschistin, jodelt und singt mit schönem Alt, was sie als musikalische Gestalterin und Arrangeurin sonst schafft (einfach mal „Seeräuberjenny“ auf Youtube suchen), kommt in Bern nicht zum Tragen. Das Bühnenbild etwa besteht materiell aus Holz- und Metallkästen, die in einem Fall mit Pianoseiten bespannt sind, die in Trommeln einmünden. Mit dem Bratschenbogen gestrichen und gezupft, führt das zu interessanten Klangeffekten, Popržan nennt es „Donnergeige“. Oder sie zupft ihre Bratsche und singt; leider aber zunehmend nur Hintergrundmusik. Wichtiger werden fremde Soundtracks, etwa das von Popržan gesungene „Bang Bang (My Baby Shot Me Down)“ von Nancy Sinatra aus Tarantinos Kill Bill oder „Stuck in the Middle with you“ aus Reservoir Dogs.

Entsprechend solcher Rape & Revenge-Bezugnahmen gibt es ein intensives lautstarkes Spiel, oft auch Schreien, das ins Abstrus-Lustige umkippt, bevor es unerträglich wird. Sitzt man in der ersten Reihe, befürchtet man, Blutspritzer abzubekommen: Die vier österreichischen Autorinnen rächen sich an allem, was ihnen widerfuhr, und nehmen auch noch die Rachebedürfnisse aller anderen Frauen dazu: die beiden Incels werden blutigst niedergemacht (mehrmals, weil sie wie das Tuntschi immer wieder aufstehen und nicht stillhalten), die von Berger gespielte Sexpuppe entmannt, nachdem es zuvor Eifersüchteleien darum gab, wer sie halten/umarmen/ins Bett mitnehmen darf. Fabienne Biever, Theaterpädagogin der Bühnen Bern, die für den verhinderten Vontobel ins Stück einführte, meint im Privatgespräch später lachend, es sei alles schon drastisch und „mindestens FSK 16“; aber auch, dass es darum ginge, das Publikum früh zum Mitlachen zu bekommen, dann sei die Aufführung gerettet. Recht hat sie, und das Publikum macht mit (es wird ihm, selbstreferentiell angereichert, viel angeboten: „Wenn wir jetzt von Pygmalion sprechen, dann freut sich das Publikum, sowas hört es gerne“, wird auf der Bühne räsoniert).

Es gibt sehr lustige Szenen, nicht nur dadurch, dass die drei Sprecherinnen oft im weißen Me-too-Bademantel auf der Bühne stehen, auch dadurch, dass berüchtigte Hotel-Szenen drastisch umgekehrt werden. Natürlich kennen die Autorinnen die gesamte Sagenwelt und alle Bearbeitungen auswendig und spielen darauf gerne an: „Gott ist auch nichts anderes als ein Incel.“ Gelungener sind grundsätzliche Überlegungen: Wer sind wir? Unterstützerinnen patriarchaler Zwänge in „Euren heteronormalen Zweierbeziehungen“, wie Kotikova herausschreit, oder das von Devos gesprochene Gegenteil: „Mein Mann kocht, putzt, macht den Haushalt, kümmert sich um die Kinder, ich lebe das Matriarchat“. Welche Rollen spielen Mütter in der Incel-Kultur? Welche Frauen oder „Fründinne“ generell, welche Formen von Gesellschaft und Zusammenleben wollen die/sie/wir? Als Sennentuntschi 1972 auf die Bühne und 1981 ins Fernsehen kam, gab es Skandal; den gibt es heute nicht mehr. Aber jede Menge interessanter Einsichten und Fragen, denen man nicht entkommt, wenn man 2021 damit konfrontiert wird: „Das Monster sind die anderen.“