Verdis „Don Carlos“ in Bern
Zur Premiere von Verdis „Don Carlos“ in Bern
Bern, 16. Oktober 2021, Bernhard Metz

Mit Verdis Don Carlos bringen die Bühnen Bern mit dem Berner Symphonieorchester (BSO) unter Nicholas Carter die erste Opernproduktion der neuen Saison (Regie Marco Štorman). Don Carlos, nicht Don Carlo, keine der ins Italienische übersetzten späteren Versionen, sondern die früheste französische (Uraufführung Paris 1867), angereichert durch Modifikationen aus der spätesten italienischen (Modena 1886). Diese französische Urfassung jedoch nicht ohne Striche, die Balletteinlagen etwa fielen fort. Musikhistorisch ist das nicht ganz die reine Lehre, aber solches Vermischen auch anderswo gängig, von keiner Verdi-Oper gibt es mehr Varianten und Fassungen. In Bern ergibt dies einen stattlichen Fünfakter von 200 Minuten Spielzeit (in den kürzeren italienischen Fassungen fehlt der erste Akt). Angelegt als „grand opéra à la française“ mit einer Fülle anspruchsvoller und schwieriger Partien ist diese Carlos-Produktion eine starke Ansage: Verdis vielleicht komplexeste und monumentalste, sicher aber längste Oper zum Saisonauftakt, zugleich als Visitenkarte eines neuen Ensembles mit neuer musikalischer Leitung, mutig anzupacken und dieser Aufgabe bravourös nachzukommen.

Verdi komponierte neben Don Carlos nur Les vêpres siciliennes auf Französisch (seine weiteren französischen Opern sind Überarbeitungen früherer italienischer). Dass diese Fassung im zweisprachigen Kanton Bern besser aufgehoben ist als eine italienische Übersetzung, versteht sich, weist Bern lange Traditionen frankophonen Theater- und Bühnenschauspiels und sogar ein eigenes Nouvelle Scène-Programm auf. Es ist eine ziemliche Herausforderung für ein Haus dieser Größe (die Bühnen Bern – vormals Konzert Theater Bern – sind ein mittleres Vierspartenhaus), das mit dem aus Klagenfurt gekommenen Florian Scholz 2020 einen neuen Intendanten erhielt und in den letzten Monaten viele Umstellungen durchlaufen musste. Auch finanzielle, so wurde entschieden, die jahrzehntelang dem Berner Kulturbetrieb als «Bundesmillion» zukommende Sonderzuweisung (wegen diplomatischer und repräsentativer Aufgaben von Bern als Bundesstadt) ersatzlos zu streichen; den Bühnen Bern fehlen damit jährlich etwa 400000 Franken.

Romantik-Spezialist Mario Venzago, der viel im Opernhaus dirigierte, wirkt seit dieser Saison ebenso nicht mehr in Bern wie das exzeptionelle Opernensemble, zu dem u.a. Todd Boyce, Andries Cloete, Claude Eichenberger, Young Kwon, Michal Marhold, Orsolya Nyakas, Oriane Pons, Eleonora Vacchi zählten. Ein solches Ensemble, das in der letzten intakten (vorpandemischen) Saison 2018/19 ein Repertoire mit Bravour meisterte, das von Händels Lotario bis Philippe Boesmans’ Reigen reichte, gab es so nirgendwo sonst. Das neue mit dem ebenfalls aus Klagenfurt gekommenen Carter als BSO-Chefdirigent und Co-Operndirektor, er gab mit Don Carlos seinen Einstand, tritt in große Fußstapfen.

Das Carlos-Libretto fußt vor allem auf Schillers Dom Karlos – Infant von Spanien (1787), zu geringeren Teilen auf Philippe II (1801) von Marie-Joseph Chénier sowie auf weiteren dramatischen Bearbeitungen „imité de Schiller“ Eugène Cormons, Philippe II, Roi d’Espagne (1846) – von dort wurden Waldbegegnung und Autodafé genommen – sowie Alexandre Soumets Élisabeth de France (1828). Schiller und die Schweiz weisen besondere Verbindungen auf, hat er – ohne sie je bereist zu haben – als letztes vollendetes Drama doch die wichtigste literarische Bearbeitung des Nationalhelden Tell verfasst (von Rossini 1829 vertont). Die Eidgenossen dankten das mit anhaltender Verehrung und öffentlich sichtbaren Erinnerungszeichen, besonders dem 1859 in „Schillerstein“ umbenannten Mythenstein im Vierwaldstätter See; ein vergleichbares Denkmal gibt es für keinen anderen Ausländer. Dass sich Verdi vor Don Carlos anderen Schiller-Stoffen widmete (Giovanna d’Arco 1845; I masnadieri 1847; Luisa Miller 1849), zeigt die Bedeutung des schwäbischen Dramatikers im 19. Jahrhundert für Europa. Von niemand anderem hat Verdi mehr literarische Vorlagen vertont, er zählte Schiller neben Shakespeare zum Lieblingsautor, hatte seine Werke auf dem Nachttisch. Uns Heutigen mag kaum bewusst sein, dass kein anderer um 1800 verstorbener deutschsprachiger Autor heute noch so viel gespielt und für die Opernbühne und in Musik gesetzt wurde wie Schiller. Verdis Oper, in den italienischen Fassungen häufiger auf dem Spielplan, wird auf deutschsprachigen Bühnen erst seit einigen Jahren französisch gegeben; in Bern, anders als Schillers Theaterstück, zuvor nie.

Don Carlos ist gewaltig, auch gewalttätig, hinsichtlich der thematisierten Gewaltexzesse wohl nur mit Meyerbeers Huguenots zu vergleichen, wo es keine Ketzerverbrennung, dafür das Massaker der Bartholomäusnacht gibt. Regisseur Štorman pusht den Body Count. Im Unterschied zu Schiller und Verdis Librettisten Joseph Méry und Camille du Locle sterben nicht nur der Marquis de Posa (Gustavo Castillo) sowie mehrere Ketzer und Gesandte, sondern – auf offener Bühne sichtbar erschossen durch Elisabeth de Valois (Masabane Cecilia Rangwanasha) und Princesse Eboli (Eve-Maud Hubeaux) – auch Carlos (Raffaele Abete), König Philipp (Vazgen Gazaryan) sowie der Großinquisitor (Matheus França). Le roi est mort, vive la reine! Dabei kommen keine Damenrevölverchen zum Einsatz, sondern hochpolierte silbrigglänzende Pistolen, wie sie zuvor Rodrigue Posa statt eines Dolches gegen Eboli richtete (hätte er die nicht verschont … je suis, moi, une ennemie dangereuse!). So stehen am Schluss triumphierend drei Frauen auf der Bühne, mit erhobenen Armen, Elisabeth und Eboli sekundiert von Thibault (Evgenia Asanova). Frauen, nicht nur Sängerinnen, auch in den Rollen; Page Thibault ist nicht nur Hosenrolle, sondern soll weiblich verstanden werden. Transgender oder Geschlechtsumwandlung bleibt offen, erklärt wird: „per se schon mit einer Genderfluidität ausgestattet, erlebt in der Berner Inszenierung im Kreis der Frauen eine Verwandlung: In einer Art Initiationsritus wird der Junge mit der weiblichen Stimme zu einer Frau und erhält dadurch […] ein Stück Freiheit.“

Ein irritierender Schluss, wenn es auch kaum die Falschen trifft und sich besonders Hubeaux in Nikita-Manier mit schwarzem Lederoutfit als Cool Killer ästhetisch gut macht. Männer sind in dieser Inszenierung hochproblematische Patriarchen und gewaltsam zu entsorgender toxischer Sondermüll, ausgiebig wird im Programm Virginie Despentes’ feministisches King Kong Theorie-Manifest zu Vergewaltigung zitiert: „Eine althergebrachte, unbarmherzige Politik lehrt die Frauen, sich nicht zu wehren. Die übliche Zwickmühle: Uns wird klargemacht, dass es nichts Schlimmeres gibt, und zugleich, dass wir uns weder wehren noch rächen dürfen. Wir sollen leiden und nichts anderes tun können. Ein Damoklesschwert zwischen den Schenkeln. Trotzdem halten es Frauen immer noch für nötig zu versichern: Gewalt ist keine Lösung. […] In jener Nacht wäre es mir lieber gewesen, ich hätte überwinden können, was meinem Geschlecht eingetrichtert worden ist, und sie einen nach dem anderen umgebracht.“ Der König ist tot, es lebe King Kong. Dramaturgin Rebekka Meyer resümiert das für die Berner Inszenierung und die Handlungsabänderung: „Élisabeth, Eboli und Thibault wurden alle von Männern bedroht, vergewaltigt, gedemütigt oder verkauft. Wenn sie zum Schluss symbolhaft töten, dann im Wissen um die Notwendigkeit der Überwindung eines Systems und nicht aus persönlicher Rache […,] nicht aus privater Leidenschaft, sondern aus politischer Pflicht.“ Symbolhaft ist das nicht, die erschossenen Systemfeinde stehen vor dem Schlussapplaus nicht mehr auf. Wäre solche Reaktion auf „toxische Männlichkeit“ der Versuch, „den patriarchalen, mit Gewalt durchgesetzten Kreislauf [zu] durchbrechen“ oder schlicht Rape & Revenge?

Viel Schatten und wenig Licht bietet die Bühne (Frauke Löffel); alles ist schwarz und weiß bzw. düster, optische Umsetzung des auch musikalischen Chiaroscuro als fortwährendes Wechseln zwischen Dur und Moll. Dabei ist das reduzierte Bühnenbild mit wenigen Requisiten und Objekten gelungen, wirkt durch die eindrückliche Lichtregie von Bernhard Bieri überzeugend: Im winterlichen Wald von Fontainebleau stehen zwei Feuersschalen mit Neonröhren, später unterschiedlich eingesetzte schwarze (sogar schwarzbezogene) Kniebänke, die verschieden arrangiert und kombiniert werden. Beim ersten Auftritt von Philippe („Le roi!“) im zweiten Akt öffnen sich hell die Wände, man ist nicht nur von der Musik überwältigt, auch vom Licht geblendet wie beim plötzlichen Sonneneinfall durch Jalousien. Die Darsteller verlieren sich im Dunkeln, sind dabei aber immer gut zu sehen. In den Akten I–III hängen bunte Zwischensegel von oben herunter, die erst heiter, dann aber wie Fallbeile wirken (verliebt/verlobt/unverheiratet), die sich vertikal bewegen. Zum Autodafé ein großer Flammenzwischenvorhang, anschließend ein weißes Tuch im Hintergrund, das aufhellt und wie ein Schutzmantel und Brautschleier wirkt, sodann als Leichentuch sichtbar wird. In den schnell umschlagenden Ambivalenzen ist das gut gewählt, wirkt wie wortwörtliche Umsetzung des Schillerschen Karlos-Vorworts:

„Bei dem anhaltenden starren Hinsehn auf die nämliche Fläche kann es nicht anders kommen, als daß die Augen, auch des schärfsten Beobachters, anfangen trübe zu werden, und die Objekte verwirrt durcheinander zu schwimmen. Wenn der Dichter nicht Gefahr laufen will, sich in seinen eigenen Irrgängen zu verwickeln, und über der ängstlichen Farbenmischung des Details die Perspektive des Ganzen zu verlieren, so ist es nöthig, daß er zuweilen aus seinen Illusionen heraustrete, daß seine Phantasie von ihrem Gegenstand erkalte, und fremde Empfindung seine eigne zurechtweise. Mit den Lieblingswerken unsers Geistes ergeht es uns beinahe wie mit unsern Mädchen – endlich werden wir blind für ihre Flecken, und stumpf durch Genuß. Dort wie hier sind kurze Entfernungen, kleine Spannungen oft heilsam, die erlöschende Glut des Affekts wieder anzublasen. Die Flamme der Begeisterung ist keine ewige Flamme.“ Das altbekannte Lieblingswerk neu zu sehen, gestalttheoretisch informiert durch optische Verfahren der Entfremdung, Reduktion und Entfernung die Glut wieder anzublasen; mehr können Bühnenbilder kaum schaffen.

Dabei wird durch die Entscheidung, die Pause mitten im dritten Akt anzusetzen, das Autodafé zum Zentrum der Oper; als Stillstellung der Gefahr über die Pausendauer, dann aber deren unabdingbare Ausführung. Der Vielfarbigkeit des Bühnenbilds, die durch Flammenvorhang und Leichentuch ersetzt wird, immer vor schwarzer Bühne, entsprechen nicht die Kostüme (Axel Aust). Mit Ausnahme von Elisabeth und Posa sind alle Mitwirkenden dunkel, grau, auch schwarz gekleidet, in teilweise modernen Schnitten, die Herren meist in dunklen Anzügen. Zur spanischen Hofmode fehlen nur Halskrausen. Elisabeth hingegen trägt auf hellen Kleidern übergroße Schleifen und sieht damit wie eine zum Aufreißen verpackte Pralinenschachtel aus, königliches Accessoire und Spielzeug, als den früheren Verlobten erschießender Racheengel tritt auch sie in schwarz auf, mit armlangen schwarzen Handschuhen. Nur, Rache wofür? Die Kostüme sind dabei nicht schlecht, wenn es auch Unstimmigkeiten gibt: der Mönch/Charles V (Christian Valle) etwa trägt graues Collarhemd, was kein Mönchsgewand ist, sondern Habit eines Priesters (was der Qualität seines Gesangs keinen Abbruch tut).

Überragend dirigiert als neuer Chefdirigent Carter das Berner Symphonieorchester mit einer Kernigkeit und Straffheit, wie sie nur in den glücklichsten Verdi-Momenten zu erleben ist. Die einzelnen Instrumente, besonders die Holz- und Blechbläser, werden mit perlendem Klang gespielt, es gibt diesen großartigen Verdisound, wie er von größeren Formationen selten zustandegebracht wird, die ihn oft verschleimend zerspielen, und dann zwar vielleicht noch laut, schnell und dynamisch, aber nicht nuanciert und feinartikuliert konzertieren. Im Gegenteil dazu ist Verdi hier mit allem, was ihn so wundervoll und bereits jede Ouvertüre zu einem Fest der Freude und guten Laune macht, in aller Pracht zu hören. Zur Ouvertüre geschlossener Vorhang, der sich zum Choreinsatz (Leitung Zsolt Czetner) hebt, bereits der erste Auftritt des Chors („L’hiver est long! La vie est dure! Le pain est cher!“) zeigt auch das überragende Zusammenspiel des Orchesters mit den Stimmen, was bei den Einsätzen der Solisten anhält. Bedauerlich ist freilich, dass die Choristen permanent schwarze Masken tragen müssen, wie Statisten; das würdigt sie herab (die Gesandten treten erst mit Mundnasenschutz auf und sind gar nicht als solche kenntlich, dürfen dann aber als Bezugsgruppe ohne singen).

Sehr gut gelingt es dem aus Neapel stammenden Tenor Raffaele Abete, die Titelrolle als labilen, grenzwertigen Wahnsinnigen zu geben und auch so zu singen, als irre schönen Grenzgang zwischen Hamlet und Ödipus. Was Abete allein an Mimik – singend – abliefert, ist sehenswert. Auch durch Betonungen einzelner Wörter, wenn auch mitunter etwas zu italienisch intoniert, charakterisiert er eindrücklich, dass der historische Carlos de Austria ein Kranker war (er litt an Epilepsie und verstarb als erstgeborener Sohn von Felipe II mit 23 Jahren in Kerkerhaft, wohin er vom Vater verbracht worden war, Gerüchten zufolge an einer Vergiftung). Abete steigert sich spürbar, ist zu Beginn etwas wackelig, hat aber genug Reserven, um die anspruchsvolle Partie zu einem guten Ende durchzubringen, ein feiner Tenor, dem der schwierige Wechsel zwischen überbordender Freude und abgründiger Traurigkeit sehr gut gelingt.

In Verdis Oper, bereits bei Schiller („Geben Sie Gedankenfreiheit“), stehen weniger Carlos als stärker Posa und Philippe im Mittelpunkt; die Beziehung zwischen Aufständischem und König, die sich gegenseitig vor Fehlern bewahren und retten wollen, es aber nie können, die Einsamkeit des Monarchen (bei Verdi etwas flacher wegen der fehlenden Liebe Elisabeths, bei Schiller steht Philipp vor dem Leichnam Posas und sinniert: „Ich hab’ ihn lieb gehabt, sehr lieb. […] Er war meine erste Liebe.“) sind sicher interessanter als die Frage, in wen sich ein geistesgestörter Prinz verliebt oder welche Begierden, Leidenschaften und Wünsche Einzelne aufweisen (wenn auch Schiller formulierte: „Die Geschichte des unglücklichen Dom Karlos und seiner Stiefmutter der Königin, ist von den interessantesten, die ich kenne, aber ich zweifle sehr, ob sie so rührend als erschütternd ist.“) Die Rivalität zwischen Vater und Sohn um Elisabeth wird erweitert um die um den Malteserritter Posa, die Vater–Sohn-Konstellation nicht nur bezüglich einer Frau, auch wegen eines Mannes konfliktreich. Homoerotische Männerliebe gibt es neben heterosexueller auch im Carlos, allen Entmannungsversuchen zum Trotz. Zugleich ist das Portrait des Infanten, das Elisabeth als Beweis ihrer Untreue vorgehalten wird, in dieser Inszenierung ein Spiegel; unziemlich und verbrecherisch nicht nur die Liebe zwischen angeheirateter Stiefmutter und Sohn, sondern als narzisstische Selbstliebe, wovon die meisten Personen dieser Oper nicht frei sind.

Die Berner Inszenierung ist entschieden. Sie arbeitet eines der bei Schiller weniger wichtigen Themen, den Hass Carlos’ auf seinen Vater, heraus. Das folgt dem Libretto, verlässt aber die Tradition. Carlos’ Randständigkeit wird aufgehoben, er als Hauptfigur eingeführt, was nicht nur daran liegt, dass Rodrigue früher stirbt, sondern auch an vielen zusätzlichen stummen Auftritten, wobei Carlos im Hintergrund präsent bleibt. Das geschieht oft mit grenzdebilem Dauergrinsen, aber Abete muss den Irren spielen. Gustavo Castillo singt Rodrigue Posa eindrücklich, agil, der venezolanische Bariton ist der ideale Freund des labilen Prinzen, auch stimmlich in den Duetten. Zugleich kommt es zu ironischen Überzeichnungen, wenn etwa beim Freundschaftsduett „Dieu, tu semas dans nos âmes“ (und auch beim Wiederkehren des Freundschaftsthemas) die immer gleichen Pathosformeln aus statischer Öffnung der Arme, Stillstehen und Strahlen hervorgeholt werden; das wäre gut in einer Karl May-Verfilmung aufgehoben, wenn sich Winnetou und „Scharlih, mein Bruder“ begegnen; bei Štorman schneiden sich Carlos und Rodrigue in die Hände, um ihre Freundschaft als Blutsbrüderschaft mit mehr bekräftigen zu können als nur schnödem Shakehands, echtes, blutiges Commitment. Dass dabei Todd Boyce im Rang zuhört und nicht selbst auf der Bühne singt, schmälert ein wenig die Freude an den gelungenen Duetten und in ihrer Massierung und Übertriebenheit schon wieder unglaubwürdigen Freundschaftsbezeigungen von Abete und Castillo.

Übervater Philipp wird von Vazgen Gazaryan, der kürzlich in Berlin in Enescus Œdipe zu hören war und in Basel 2022 als Großinquisitor vorgesehen ist, in miserablem Französisch gesungen; zugleich gelingt ihm das berühmte „Ella giammai m’amò“ (bzw. eben französisch „Elle ne m’aime pas“) tiefbewegend und -berührend. Philippe ist weinerlich und anrührend, kein Machtmensch und Brutalopotentat, mit intimen Momenten, die danebengehen könnten. Gazaryan überzeugt voll; von allen Personen dieser Oper ist Philippe sicher die tragischste, muss am schwersten daran tragen, Herrscherrolle, Staatsraison, Familiensinn, Vaterliebe, humanes Empfinden (er ist Posa gegenüber aufgeschlossen) unmöglich verbinden zu können. Philippe wäre gerne ein anderer, nur kommt er nie dazu; die Königskrone lastet schwer und die Macht der Kirche und Tradition nicht minder. An ihm hängt recht eigentlich die Tragik des Stücks bzw. seine Wirkmächtigkeit, wie Schiller formulierte: „Wenn dieses Trauerspiel schmelzen soll, so muß es – wie mich däucht – durch die Situation und den Karakter König Philipps geschehen. Auf der Wendung, die man diesem gibt, ruht vielleicht das ganze Gewicht der Tragödie.“

Der nicht kleine Gazaryan wird in der Begegnung mit dem riesigen Matheus França als Großinquisiteur zum Buben, der sich einschüchtern lässt, klein und furchtsam. Er singt mit schönem Bass, der durchdringt, Gänsehaut verursacht bei der Warnung „gardez­vous de mon inquisiteur!“ Diesen bringt França präzise und tief, aber es ist eben auch eine der stärksten Bass-Rollen, die Verdi geschrieben hat, schwierig, eindrücklich, beunruhigend. Zugleich wirkt der massive Bass mit schwarzen Handschuhen und Sonnenbrille im Anzug eher wie ein Mafia-Leibwächter denn als mächtigster Kleriker seines Umfelds. Das nimmt ihm Autorität, auch wenn er die mächtigste Person dieser Oper ist.

Die drei weiblichen Hauptstimmen Elisabeth, Eboli, Thibault ergänzen sich stimmlich und als Charaktere ideal. Wie Abete braucht die aus Genf stammende Hubeaux etwas, um stimmlich richtig warmzuwerden, ist am Anfang nicht voll da. Sie steigert sich merklich im Verlauf des Abends. Als große schöne Frau ist sie eine gute Verkörperung der stolzen Eboli, kann nicht verstehen, dass Philippe sich nicht in sie verliebt haben könnte. Sie beherrscht ihre Arien, besonders „O don fatal et détesté“ gerät zum lange beklatschten Triumph. Thibault wird durch Asanova wendig, frisch, klug gegeben. Sie ist der Kreisel, der über die Bühne wetzt, während die anderen Personen meist herumstehen, sich kaum bewegen, bewusst verharren; körperlich distanziert und starr. Spanisches Hofzeremoniell.

Die Entdeckung des Abends ist die 27-jährige Masabane Cecilia Rangwanasha als Elisabeth. Bei ihr sitzt gleich zu Beginn alles, sie dreht mit dem ersten Takt aus dem Stand voll auf, als würde es kein Morgen und keine weiteren Arien geben, hält aber fest und unbeirrt Tempo und Lautstärke, bricht nie weg, ist extrem kraftvoll und stark, der Rolle voll gewachsen. Diese Stimme ist die wahre Regentin und Befehlshaberin, zugleich empathisch und liebevoll. Wo sie den weinerlichen Carlos, der ihr nach der Heirat mit Philippe wieder mit seiner Verliebtheit kommen will, zurechtweist, dass er in ihr nunmehr seine Mutter vor sich hat und auch den eigenen Vater töten müsste („Eh bien! donc, frappez votre père! venez, de son meurtre souillé, traîner à l’autel votre mère!“), ist sie resolut und erschütternd in ihrer Konsequenz. Zugleich, das liegt an der Regie, bewegt sie sich kaum. Rangwanasha gleicht einem vokalen Supersportwagen, der in Sekunden auf Geschwindigkeiten beschleunigt und Drehzahlen erreicht, zu denen sich andere Sängerinnen niemals steigern werden. Rangwanasha ist in Bern als Freia in Rheingold und Elettra in Idomeneo vorgesehen, Termine, die man sich in den Kalender eintragen kann. Würde es um die Stimmpräsenz und die Fähigkeiten dieses Soprans gehen, müsste diese Oper Elisabeth de Valois heißen.

Dass die klassische Musik in Europa ein Rassismusproblem hat, wird seit langem diskutiert, noch gravierender wirkt es sich aber auf der Opernbühne aus. Dort gibt es – trotz Stars wie Leontyne Price oder Grace Bumbry, später auch Jessye Norman, Kathleen Battle oder Pretty Yende, die wichtige Titelrollen sangen – bis heute keine selbstverständliche Besetzungspraxis von People of Colour (PoC) für Hauptrollen (auch Sängerinnen und Sänger aus Asien sind allermeist nur als Choristen oder seltener als männliche Solisten besetzt, nie aber in weiblichen Hauptrollen). Carlos bot dafür immer Ausnahmen, etwa auch mit Shirley Verrett; aber meist wurden Soprane of Colour nur als Eboli besetzt. Dass Rangwanasha in Bern Elisabeth singt, ist daher nicht gering zu achten und politisch wohl bedeutsamer und langfristig relevanter als die Frage, wer von wem auf welche Weise – wie (un-)motiviert auch immer – erschossen wird oder sich als Frau erfindet.

Überhaupt werden Fragen der Ethik und moralischen Haltung in einem Umfeld, wo befristete Arbeitsverträge und die arbeitsrechtlich bedenkliche Praxis, mit jedem Intendantenwechsel wie bei Witwenverbrennungen immer sogleich komplette Ensembles auf die Straße zu setzen, merkwürdig drängend: Sexuelle Ausbeutung und sexualisierte Gewalt hat ihre konkrete Basis genau darin, dass Macht über prekäre Anstellungs- und Beschäftigungsverhältnisse gerade im Aufführungs- und Bühnenmetier so brutal und total ausgeübt werden kann. Vielleicht sollte das einmal zum Thema einer Inszenierung gemacht werden, besonders, wenn die Voraussetzung dafür, dass sich ein neues Ensemble in Glanz und Gloria vorstellt, zuvor die Entlassung des vorangehenden bedeutet, das selbst wieder unter solchen Voraussetzungen beginnen konnte. Don Carlos wäre – auch in dieser Berner Inszenierung – dafür ein Ausgangspunkt.

Vielleicht verbinden sich dann die Despentes-Zitate aus dem Programmheft („Damoklesschwert zwischen den Schenkeln“) mit den Fallbeil-Assoziationen des Bühnenbilds und Schillers Furcht vor der Guillotine des Publikumsgeschmacks und dem Bühnenschafott der Schauspieldirektoren. In Interviews mit Berner Kulturagenda und Bund äusserte der wie Rangwanasha aus Südafrika stammende Andries Cloete, der 2006 von Graz nach Bern wechselte, bis 2021 festes Ensemblemitglied der Berner Oper war und nun nach 15 Jahren, nachdem er drei Intendantenwechsel überlebt hat, ebenfalls gehen musste: „Im Theater hängt über allen stets ein Damoklesschwert, aber dennoch war ich emotional nicht wirklich darauf vorbereitet, als es bei mir fiel“. Der Carlos-Rolle wäre Cloete stimmlich gewachsen gewesen, nur jung genug wäre der 49-jährige dafür nicht gewesen, obschon der enorm bewegliche Tenor deutlich jünger aussieht. Zusammen mit Rangwanasha hätte das ein Paar gegeben, das sich wirklich hätte sehen lassen können. Zumindest Lerma hat Cloete 2002 in Graz erfolgreich gesungen, es hätte also auch eine kleinere Rolle getan. Aber solche Überlegungen betreffen dann Ageism (oder schlichten Sexismus und/oder Rassismus), woran junge hippe Menschen ungern erinnert werden wollen, wenn von Feminismus die Rede ist. Auch Altersarmut ist ein spezifisch weibliches Risiko.

Zugleich muss man sagen: Wenn schon neu begonnen wird und die neue Saison nicht nur richtig eingeläutet werden, sondern mit Pauken und Trompeten eine neue Ära beginnen soll, könnte es wirklich volles Rohr sein, mit ganz großer Pauke (die im ersten Akt bei den Kanonenschüssen prägnant zu hören ist): Warum nicht die Berner Besonderheiten nutzen und das Ballett integrieren, also die Urversion des Carlos von 1867 komplett bringen? Estefania Miranda, die geniale Ballettdirektorin, ist glücklicherweise in Bern verblieben, es wäre eine Möglichkeit gewesen, die an allen Ecken und Enden wiederholt reklamierte Zusammenarbeit zwischen den Sparten des Hauses („Wille zur Gemeinsamkeit und zum Miteinander … als Team eine für Bern relevante Arbeit“), was nicht zuletzt den Namenswechsel motivieren soll, auch auf der Bühne sehen, nicht nur im Saison-Programm zu lesen („wo die Kreativität von Tanz, Oper, Konzert und Schauspiel aufeinanderprallen. Diese Marke, unser Haus, wird von nun an Bühnen Bern heissen“). Peter Konwitschny etwa hat die Carlos-Urfassung, die selbst 1867 in Paris nicht ohne Striche aufgeführt wurde, in Hamburg 2001 (sie wurde auch in Wien wiederaufgenommen) inszeniert und damit gezeigt, dass Verdi wirklich einer der ganz Großen ist und leicht neben Wagner oder Meyerbeer stehen kann, was schieren Umfang angeht: viereinhalb Stunden Grand Opéra, mit allen Facetten in voller Pracht, Ballett inklusive, als Verbindung von Musiktheater und Tanz. Das wäre für die Bühnen Bern (Plural!) das unbescheiden richtige Maß gewesen.

Don Carlos ist ein melancholisch-nostalgisches Stück – egal wie viele am Ende sterben, wie der Freiheitskampf in Flandern oder die Hungersnot in Frankreich ausgehen. Bei Schiller beginnt alles mit „Die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende“ und der Vergeblichkeit: „Wir sind vergebens hier gewesen.“ Hoffentlich nicht. Das müsste man sonst auch darauf beziehen, in welchem Glanz die Berner Oper mit altem Ensemble und Dirigenten früher erstrahlte. Zumindest der großartige Chor unter Czetner ist geblieben. Zugleich war dieser Einstand der Neuen viel zu gut, als dass man unversöhnlich nach hinten blicken dürfte, eröffnet Perspektiven in eine glorreiche Zukunft und gibt begründete Hoffnung, dass noch ein weiteres Wunder von Bern geschehen könnte. Das für die begonnene Saison angesetzte Programm mit Rheingold, Idomeneo, Pelléas et Mélisande, I Capuleti e i Montechi (lauter Premieren) sowie einer Uraufführung (Liebesgesang von Georg Friedrich Haas und Händl Klaus als Auftragswerk) sollte jeden Skeptiker zumindest auch an seinen Befürchtungen und Vorbehalten zweifeln lassen; Vorfreude ist angemessener. Vereinzelte Buhrufe erklangen auch erst, als Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner und Dramaturgin geschlossen auf die Bühne kamen. Eine Rangwanasha gab es früher nicht in Bern, so hilft alles nichts: Le roi est mort, vive la reine!