So geht es also auch, nach langer Pause wieder: Verdis Falstaff an der Berliner Staatsoper (Premiere 25. März 2018) konnte bis Mitte Februar 2020 zwölfmal gezeigt werden, nun war er erstmals wieder zu sehen: Nicht im Shakespeare-Schmock altertümlicher Windsor-Kulissen mit elisabethanischen Kostümen, sondern im urbanen Milieu à la West Side Story. Dieser Inszenierung geht es weniger um Musik-, Opern- oder Aufführungsgeschichte, sondern zuvorderst um den Spaß, den man mit Falstaff neben aller anthropologischen und soziologischen Reflexion auch haben kann. Der Gasthof zum Hosenband ist zur berliner Hippie-Bar „Panorama“ inmitten mit Graffiti versehener Brandmauern geworden. Alles wirkt irgendwie gemütlich und heimelig, wie aus einer lange vergangenen Zeit, Nachwendecharme mit improvisierten Bars in besetzten Häusern, Getränken aus der Flasche, No War!-Transparenten und Punkmädels, die aus den Fenstern lehnen. Nur halt mit anderer Musik.
Dabei ist Verdis Alterswerk, von den einen als Quintessenz eines überreichen Komponistenlebens verehrt, von den anderen als nicht anschlussfähig zu seinen früheren arienreicheren Opern abgelehnt, gar nicht so gefällig und bis heute widerspenstig geblieben. Anders als seine anderen Shakespeare-Opern Macbetto oder Otello ist Falstaff eine Komödie und damit in Verdis Schaffen (fast) singulär. Falstaff enthält nur wenige Arien, kaum Wiederholungen und fordert ein durchgehend am theatralischen Sprechen ausgerichtetes dialogisch oder polylogisch verwobenes Singen, oftmals im Ensemble. Es gibt kein Vorspiel, die musikalische Handlung beginnt unvermittelt und fällt mit der Tür ins Haus wie Dr. Cajus, als er hereinstürmt. Die Darsteller sind als Schauspieler und Sänger gleichermaßen gefordert und fast immer auf der Bühne, auch in Gruppierungen und als Ensemble. Es gibt wenige Soloeinsätze, doch genügend Situationen, wo alle sich gemeinsam behaupten müssen, am Ende auch gegen den starken Chor.
Was der fast 80jährige mit seiner letzten Oper und ersten Commedia lirica (Un giorno di regno, die andere Komödie Verdis, firmiert offiziell als „Melodramma giocoso“) vorgelegt hat, stellt auf jeden Fall eine Neuorientierung und Erweiterung bisheriger Verfahren dar; es gibt in der kontinuierlich durchkomponierten Handlung eine schier unglaubliche Vielfalt an Rhythmen, Melodien und Harmonien. Verdi ist dem modernen Musiktheater nirgends näher gekommen. Fans werden daher sagen, der Falstaff sei die Summe seines Komponierens und Verdis maximal souveräne Geste als musikdramatischer Komponist, womit er Puccini oder Strauss und das ganze 20. Jahrhundert vorwegnimmt; andere sind der Ansicht, er sei damit noch nicht einmal dort angekommen, wo Wagner zuvor längst gewesen war und immer nur ein Belcanto-Komponist geblieben. Es kommt freilich auch darauf an, wie man besetzt und vor allem dirigiert und wie man sich diesem einzigartigen Ensemblestück nähert. Das gelingt bei der Staatsopern-Produktion hinsichtlich musikalischer Aspekte sehr gut, wirft bei der Inszenierung allerdings auch wegen des Bühnenbilds gewisse Fragen auf.
Als Falstaff-Darsteller gibt es wie bei der Premiere den kraftstrotzenden Bariton Michael Volle zu erleben. Wenn der „L’onore? Ladri!“ anstimmt, singt er das Orchester locker weg und gestaltet den Anpfiff, mit dem er Bardolfo und Pistola (seit der Premiere Stephan Rügsamer und Jan Martiník) mit allen Nuancierungen seiner Stimme zurechtweist, ohne sie dabei zusammenzuschreien, absolut eindrücklich. Er sieht in schwarzem Ledermantel und kunstseidenem Hawaiihemd mit Sonnenbrille ein wenig aus wie der späte Jack Nicholson und könnte noch im härtesten Mafia-Film den Paten geben, ist dies dann aber gerade wieder nicht, wenn er den mafiösen Ehr-Begriff schon im nächsten Atemzug in seiner Zweifelhaftigkeit dekonstruiert („l’onore – una parola! – bel costrutto!“) und sein hedonistisch-humanistisches Programm dagegensetzt. Essen und trinken seien wichtiger als die Ehre der Menschen. Alter Adel, kein bloß angeheirateter. Regisseur Martone spricht über seinen Falstaff als von einem echten Hippie-Nachkömmling, einem hängengebliebenen 68er, der noch Jahre und Jahrzehnte später auf der Bierbank liegend mit Marx-Taschenbuch in der einen und Weinglas in der anderen Hand politisiert und theoretisiert. Seine Entourage, antikapitalistische Hausbesetzer, politisch etwas zurückgeblieben und nach aktuellen Vorgaben so gar nicht alert oder woke, sondern ein bisschen zu bekifft und verträumt, mit Erinnerungen an bessere Zeiten, passt da nicht unbedingt gut dazu.
Dahingegen haben die Merry Wives of Berlin (als Alice und Quickly wie in der Premiere Barbara Frittoli und Daniela Barcellona, als Nannetta und Meg neu Serena Sáenz Molinar und Cristina Damian) zwar sichtbar Geld, aber wenig symbolisches Kapital, wirken mitunter wie neureiche Zuzügler und deutlich weniger intellektuell. Die Langeweile ist den Vertreterinnen der Hausbesitzerszene deutlich anzusehen. Falstaffs geistige Beweglichkeit (er selbst spricht von seiner argutia, seinem Scharfsinn, der überhaupt erst den der anderen hervorbringe, „l’arguzia mia crea l’arguzia degli altri“), auch seinen sozialen Status werden sie nie erreichen. Was ihnen aber gar nicht aufzufallen oder gar zu fehlen scheint. Geld zählt mehr, und davon ist reichlich vorhanden. Statusmeldungen werden heutzutage durch soziale Medien, Follower, Likes und digitale Profile bestimmt, nicht im direkten Kontakt mit Menschen von bedeutender Herkunft mit beeindruckenden Stammbäumen und Familiengenealogien.
Ford (seit der Premiere der überragende Alfredo Dazza), der sich mit einem Gefolge von muskulösen Bodyguards umgibt, die nur spärlich bekleidet auftreten (etwa in Badehose, darüber weiße Bademäntel, später in Netzhemden und Ledergeschirren; im deutschen me too-Kontext lässt so etwas sich seit Anfang 2018 kaum mehr naiv lesen), mimt mit Goldbrille und Geldkoffer auch den etwas schmierigen Geschäftsmann oder sogar Vertreter osteuropäischer Mafiafamilien (Kostüme Ursula Patzak). Das Hochhaus mit Swimming Pool und Spa Area auf dem Penthouse-Dach (Bühnenbild Margherita Palli) wäre dann vielleicht im alten Berliner Westen zu lokalisieren, seit langem als Charlottograd bekannt. Zumindest wirkt Fords Zusammentreffen mit Falstaff, solange er sich noch als Signor Fontana ausgibt, als würde ein Clan-Chef dem anderen die Reverenz erweisen und dabei neben der Weinflasche gleich noch einen Koffer Drogengeld als kleine Aufmerksamkeit mitbringen.
Regisseur Mario Martone stammt aus Neapel und hat neben Theaterarbeiten immer wieder Dokumentar- und Spielfilme gedreht, darunter etwa 2019 Il sindaco del rione Sanità (Der Bürgermeister) über die besonderen neapolitanischen Schnittmengen von Familie, Gesellschaft, Politik und Camorra. Falstaff ist Martones erste Regiearbeit an der Staatsoper. Seine Inszenierung weckt solche Assoziationen (Mafia-Milieu, Hausbesetzungen, internationales Kapital auf dem Berliner Wohnungsmarkt, Fragen nach der Bewohn- und Bezahlbarkeit der Städte), aber sie tut es recht kopflos. Sie lassen sich 2021 gleichwohl noch weniger abstellen als zur Premierenzeit: Aktuell steht in Berlin etwa der Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ an. Falstaffs Clan in der Hausbesetzerszene ist groß und umfasst nicht nur die beiden untreuen Schläger Bardolfo und Pistola (und den Pagen Robin).
Volle und Daza sind die beiden wichtigsten männlichen Stimmen im Falstaff und optimal besetzt. Allein für sie lohnt sich der Besuch der Produktion. Die beiden erreichen Momente, in denen sie die wahrlich nicht leise Staatskapelle glatt stehen lassen, etwa wenn sie „L’amor che non ci dà mai tregue“ anstimmen. Das ist eindrücklich und selten so laut und zugleich so wehleidig zu hören. Oder wenn sie mit viel Witz und Situationskomik den gemeinsamen Abgang („Ebben; passiamo insieme“) vornehmen und Ford die Hausbesetzer mit erhobenem Mittelfinger verabschiedet. Auch das ist, was die Intensität angeht, nicht nur wirklich toll gesungen, sondern auch so gespielt. Aber wäre Falstaff in einem Hotel (oder zur Not im Airbnb) nicht besser aufgehoben gewesen denn gerade als Anführer von Hausbesetzern? Das verträgt sich schlecht mit seiner gedanklichen Beweglichkeit, der auch das Herumreisen, Vagabundieren und Nichtanhaltenwollen entspricht. Die Panorama-Bar wirkt wie die Endstation, an der Alkoholiker hängenbleiben, nicht aber wie ein Ort, wo man Truthähne oder gar Fasane auf die Rechnung bekommen könnte; dafür tut es eben kein Späti mit Büchsenbier und Dosennahrung.
Falstaff ist kein Freund von Traurigkeit und ebensowenig seine Begleiter Bardolfo und Pistola. Was Volle sehr gut gelingt, ist die Tollpatschigkeit und Versoffenheit von Falstaff nicht gänzlich wegzuspielen, sondern den intellektuellen und gewitzten Lebenskünstler, der er ja vorrangig ist, deutlich auszustellen. Ein bisschen wie ein gutgelaunter Jack Nicholson auf Koks. Oder zumindest Rainer Werner Fassbinder, dessen Erscheinungsbild und Lebensführung im Schauspieler-Clan auch hineinspielt. Was Volle nicht so gut schafft, ist die Rolle Falstaff als Körperbild auszufüllen. Der ist in Bachtinscher Manier eben auch ein grotesker Körper, ein Fass, ein Sherryschlauch, ein Walfisch, ein monströser Mensch, wie es bei Shakespeare heißt, der auch aufgrund dieser überdeutlichen Körperlichkeit, nicht nur wegen seines Scharfsinns, zum Katalysator und Beschleuniger der sozialen Beziehungen der anderen Figuren werden kann.
Volle ist hörbar ein überragender Sänger; dreht manchmal deutlich lauter auf als alle anderen, kann auch alleine neben dem Chor bestehen. Ist das als Falstaff aber schon überzeugend? Am Ende muss es um die Musik gehen. Dass Volle eigentlich nicht voluminös genug für die Rolle ist, heißt ganz und gar nicht, dass er die Bühne nicht gänzlich auszufüllen verstünde. Er ist nur ein zu gut aussehender und zu verführerischer Falstaff, um die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit auszuweiten und um Selbstbild und Fremdwahrnehmung die richtige Fallhöhe zu geben. Zugleich kommt Volle an den Falstaff, wie ihn Bryn Terfel seit über 20 Jahren an verschiedenen Häusern überragend gibt, (noch) nicht heran, ist diesem wohl überzeugendsten Falstaff-Darsteller der letzten Jahre nicht ganz gewachsen. Was nicht heißt, dass das nicht noch kommen könnte.
Von der echten Souveränität alten Adels ist bei Sir John nicht mehr viel vorhanden, hat er sich doch sichtbar auf eine Stufe mit seinem Gesinde herabgesoffen. Kein Geld, das soziale Schmiermittel schlechthin, der Auf- und Abstiegsbeschleuniger, und keinen Kredit mehr zu haben, macht alles nicht leichter. Da stehen Ford und selbst Cajus (gut neu besetzt mit Andrés Moreno García) besser da, sind in ihren hellen Anzügen und Trench Coats als Geschäftsleute zu erkennen, die sich die weiße Weste selbst dann nicht beschmutzen, wenn sie zum ausinszenierten Beginn der fünften Szene Falstaffs Aufenthaltsort aufsuchen und den Wirt zu bestechen versuchen, der seinen Gast aber nicht verrät. Die Übergänge zwischen den sozialen Klassen und Schichtungen sind flüssig und durchlässig; Ford und Cajus sind erfolgreiche und durchaus ernstzunehmende Player auf dem Arbeits- und Liebesmarkt, treffen den Cavaliere John Falstaff häufiger bei sich an als dass dieser ihnen einen Besuch abstattet. Zu Betrogenen werden sie alle drei, „tutti e tre“.
Wer auch immer meint, männliche Dominanz sei im 20. oder 21. Jahrhundert rettbar, wird schon von Verdi und seinem Librettisten Arrigo Boito eines andern belehrt. Dass hier ein Damenquartett das Sagen hat, geht schon aus der Personenbeschreibung des Librettos klar hervor: Da kommt zwar Ford vor seiner Frau, ist aber charakterisiert nur durch sie und lediglich als „Ford, marito d’Alice, Baritono“ (einen eigenen Vornamen hat er nicht) aufgeführt, während „Mrs. Alice Ford, Soprano“ nicht dadurch definiert wird, die Ehefrau von jemandem zu sein, und die gemeinsame (?) Tochter als „Nannetta, figlia d’Alice, Soprano“ bekanntgemacht wird. Die Ehemänner von „Mrs. Quickly, Mezzosoprano“ und „Mrs. Meg Page, Mezzosoprano“, die es ja auch geben müsste, treten nie auf und werden nirgends erwähnt, sie sind gänzlich überflüssig.
So hat auch im Falstaff „in Wirklichkeit die Gemeinschaft der Ehefrauen“ das Heft in der Hand, wie es im Kommunistischen Manifest heißt. Verdi mag es gekannt haben, Boito sicherlich, war er als Mitglied der Künstlergruppe Scapigliatura doch in einigem revolutionärer und radikaler als Marx und Engels zusammen (Falstaff scheint Marx-Leser zu sein, schaut zumindest zu Beginn des zweiten Akts in eine Zusammenfassung des Kapitals): „Unsre Bourgeois, nicht zufrieden damit, daß ihnen die Weiber und Töchter ihrer Proletarier zur Verfügung stehen, von der officiellen Prostitution gar nicht zu sprechen, finden ein Hauptvergnügen darin, ihre Ehefrauen wechselseitig zu verführen. Die bürgerliche Ehe ist in Wirklichkeit die Gemeinschaft der Ehefrauen.“ Das wird auch im Falstaff deutlich, in dem die Frauen das Sagen haben, die sich aussuchen, mit wem sie wie interagieren, die Ehen verhindern oder einfädeln, Eifersucht anstacheln und mit dem nötigen langen Atem alles erreichen, was ihnen gefällt. As they like it. Falstaff agiert nicht mehr adelig-souverän, sondern ist zum Bürgertum herabgesunken, dessen Geld, Sex, auch Jugend und Schönheit er hinterherhechelt als Jäger und Gejagter. Was Liebe ist, welche Mechanismen der Partnerwahl zum Tragen kommen, wer welchen Attraktivitäts- und Marktwert hat und wie austauschbar Menschen in ihren sozialen Rollen sind, bleibt auch bei dieser Staatsopernproduktion im Zentrum und wird nicht einfach weggelächelt.
Die große Souveräne ist daher die jüngste dieser deutlich mehr listigen als lustigen Ladies, Nannetta, eigentlich eine kleine Rolle (eben keine Anne oder ausgewachsene Alice wie ihre Mutter), von der aus Barcelona stammenden Sopranistin Serena Sáenz Molinero hinreißend gesungen. Sie war 2019 für die neue Staatsopern-Zauberflöte in Regie von Yuval Sharon als Papagena vorgesehen und rettete als Pamina-Einspringerin für Anna Prohaska sogar die Premiere. Sie ist nicht nur bildhübsch, sondern auch mit einer Stimme gesegnet, die die Luft zum Flirren bringt. Wenn sie als Nannetta im Bikini durch Dachloft und Spawelt ihrer Eltern läuft und dabei auch den Geliebten zum unerwünschten Kleiderschwimmen spielerisch in den Pool stößt, wird sie zwangsläufig von allen begehrt, nicht nur von Cajus und Fenton. Als Feenkönigin im dritten Akt zentral sichtbar übernimmt sie eine der schönsten Stellen der Oper, wo die Zeit still steht und man mit Falstaff den Feengesang zu hören glaubt oder doch zumindest vernimmt, wie eine Stimme alles zu Gold und Silber verwandelt, „parole illuminate di puro argento e d’or“. Ein magischer Sommernachtstraum, Nannetta singt hochexponiert, die anderen Feendarstellerinnen gruppieren sich um Falstaff, als wären sie Schauspielerinnen bei Näheübungen oder Großstädter beim kollektiven Kuscheln, nicht ganz pandemiekonform.
Nannetta bekommt alles, was sie will, Liebesheirat statt Ehearrangement und ihren Fenton (oder muss zumindest nicht den für sie ausgesuchten Cajus nehmen). Die Tränen zu Beginn des zweiten Teils des zweiten Akts, als ihr bewusst wird, dass sie längst anderweitig als Ehefrau versprochen wurde, trocknen ihr schnell. Die wichtigere der beiden Sopranrollen wird von Barbara Frittoli gleichfalls überragend verkörpert und vor allem gesungen. Seit vielen Jahren ist sie international eine der großen Besetzungen der Alice Ford und in vielen wichtigen Produktionen (etwa auch gemeinsam mit Bryn Terfel) zu erleben gewesen. Das Bühnenspiel mit Volle gelingt ihr ebenfalls überzeugend. Hier ist aber auch die Belcanto-Spezialistin Daniela Barcellona als Quickly sehr stark. Sie absolviert etwa ihre Botendienste motorisiert (auf einer von BMW gesponserten R60/6) und stellt mit Falstaff an, was ihr gefällt, auch wenn es in dessen Augen so aussehen mag, als wäre er der unwiderstehliche Verführer. Barcellona singt routiniert und souverän in ihrer Muttersprache, die Rolle zählt seit Jahren an vielen Häusern zu ihrem perfekt beherrschten Repertoire. Auch Cristina Damian singt ihre Meg recht gut, sie ist neu zur Produktion hinzugekommen, war 2015/16 (noch im Schillertheater) an der Staatsoper schon in Verdis Traviata als Flora zu erleben. Auch als Ensemble funktioniert das Damenquartett in allem sehr überzeugend.
Es gibt Opern, die von der Titelfigur maßgeblich abhängen, und andere, in denen ein Ensemble trägt und tragen muss. Beim Falstaff ist es beides, eine miserable Produktion kann durch einen überragenden Falstaff nicht gerettet werden, ein schlechter Falstaff aber muss notwendig alles verderben; so müssen die Einsätze stimmen, das Sängerinnenquartett stimmig sein und nicht nur optisch, sondern vor allem musikalisch überzeugen. Selbst die Besetzungen von Ford, Fenton und Cajus müssen zueinander passen. Kein Verdi-Stück braucht so sehr das perfekte Ineinandergreifen der Stimmen, richtige Abfolgen von nicht mehr nur dialogisch, sondern auf mehrere Stimmen verteilten Sprachpartien, wenn wie in der Stichomythie der antiken Tragödie nähmaschinengleich die Einsätze durchrattern. Die große Fuge am Ende ist dann der Gipfel nach zwei Stunden höchster Konzentration und fordert noch einmal letzte Reserven.
Dass alles eine Farce ist, wissen manche früher als andere, nicht erst zu Verdis oder Shakespeares Zeiten. Und doch gibt es nur wenige Weisheiten, die auf der Opernbühne so kunstvoll und schön variiert vorgeführt werden wie in der Schlussfuge des Falstaff: „Tutto nel mondo è burla, l’uom è nato burlone … Tutti gabatti.“ Bei Martone spielt sich der letzte Teil des Falstaff statt im Märchenwald um die Eiche des Jägers Herne vor einem düsteren BDSM-Etablissement ab, das noch heruntergekommener wirkt als die besetzten Häuser in den vorangegangenen Szenen; vielleicht eine verlassene Fabrik, Wolfsschlucht-Atmosphäre. Die Darsteller sind entsprechend mit Lack und Leder angetan bzw. ziehen sich gleich ganz aus. Wobei es auch wieder witzig ist, die wilde Jagd nicht nur mit Hirschgeweihen und gehörnten Männern in Verbindung zu bringen, sondern mit schwarzem Leder, Fetischen und entsprechenden Masken, Peitschen und Ketten. Die bürgerliche Sexualmoral als verkommen vorzustellen (die Wives of Berlin scheinen hier Stammkundinnen zu sein und wirken in ihren Leder- und Latexleibchen wie ziemlich desparate Housewives), ist zwar nicht originell, aber doch unterhaltsam. Von der Panorama-Bar über den Wellnessloft in den KitKatClub, lauter Körpertechniken. Honny soit qui mal y pense steht damit zwar nicht mehr über dem Gast- oder Freudenhaus, bleibt als Motto aber bestehen.
Mit der Ehrbarkeit nehmen es diese Merry Wives also nicht ganz genau (bei Shakespeare noch: „Wives may be merry and yet honest too“), es sind aber auch keine Flittchen, trotz der letzten Szene. Sie haben alle nichts zu tun und gehen keiner Arbeit nach, aber das ist kaum verwerflicher als Falstaffs Lebenswandel; Alice schmiegt sich mehrmals inniglich an ihren Gatten, der sich bremsen dürfte, was seine Eifersucht angeht und dazu keinen Grund hat. Ein Wahnsinnsmoment ist, wenn Daza singt, „Laudata sempre sia nel fondo del mio cor la gelosia“ oder von der Hölle der Ehe, in die er sich hineinmanövriert hat: „O matrimonio, inferno!“. Hier kippt Verdis Komödie ins Tragische, Daza gestaltet das Ende des Patriarchats eindrücklich aus. Fenton und Nannetta brechen aus diesem Teufelskreis der Liebe nicht aus; wohl auch ihre Ehe wird als Hölle enden wie die der Eltern. Einzig Quickly wird mit selbstbestimmter Sexualität gezeichnet, sie verschwindet (nomen est omen) mit Falstaff nach heftig erotisierten Berührungen in dessen Zimmer. Auf die Brust tätowiert trägt sie das gleiche Ornament, wie es Falstaffs Briefe an Alice und Meg aufweisen („Lo stesso inchiostro – lo stesso stemma“) und ist ihm auf eine besondere Weise verbunden. Quickly lebt am deutlichsten weiblichen Eigensinn aus, wirkt stärker noch als Alice Falstaff ebenbürtig.
Die Staatskapelle unter Thomas Guggeis tut, was sie am besten kann, schmissig aufspielen, lässt dabei die oft filigran und zierlich gearbeitete Musik etwa der Holzbläser aber nicht in einem Klangbrei untergehen. Man hat den Eindruck, als habe Verdi gerade für diese Formation geschrieben. (Die erste Falstaff-Produktion wurde nach der Mailänder Uraufführung am 9. Februar 1893 rasch in einige europäische Opernzentren entsendet, u.a. nach Wien und Berlin. Die Staatskapelle spielte daher schon im Juni 1893 mit dem Solistenensemble, das Verdi selbst ausgesucht hatte, und im März 1894 gab es bereits eine erste eigene Berliner Falstaff-Produktion an der Staatsoper). Verdi passt bestens an die Berliner Staatskapelle (komplementiert durch die Gastmusikerinnen Vivian Hanjohr an der Gitarre sowie die Hornistinnen Merav Goldman und Sulamith Seidenberg). Dass dieser Falstaff zum großen Spaß gerät, ist dem perfekten Zusammenspiel der Sänger mit diesem Weltklasseorchester zu verdanken, aber auch dem bestens einstudierten Chor (Leitung Martin Wright). Tosender Applaus nach jeder Szene.
So ist alles ein bisschen wie früher, wären da nicht die vielen unbelegten Plätze, die in Erinnerung rufen, dass nicht alles ausgestanden ist. Obwohl das Haus unter den befolgten Hygieneauflagen mehr oder weniger ausverkauft ist, bleiben eben fast zwei Drittel der Plätze unbesetzt. Das Publikum strengt sich an, mit Pfeifen, Klatschen und Jubeln wettzumachen, dass es nur so spärlich zugegen sein darf. Nun plant die Komische Oper mit Premiere am 30. April 2022 einen neuen Falstaff. Es ist die Inszenierung, die Barrie Kosky im Juli in Aix vorstellte, eine Neuproduktion des Festival d’Aix-en-Provence in Koproduktion mit der Komischen Oper Berlin, der Opéra National de Lyon und dem Bolschoi-Theater Moskau. Statt in Berlin im lukullischen Umfeld von Kochshows und Spitzengastronomie lokalisiert, Falstaff verführt als kochender Feinschmecker mit Gaumenfreuden, Küchentechnik und savoir vivre. Der Schürzenjäger ist zum Schürzenträger geworden (unter der er dann aber wieder nichts trägt). Das weckt Erwartungen. Es auch einfach schön, wenn es in einer Saison in einer Stadt gleich zwei Falstaff-Aufführungen zu erleben gibt. Die Wiederaufnahme im September 2021 an der Staatsoper hat den dafür nötigen ersten Schritt unternommen.