Verdis „Falstaff“ an der Komischen Oper Berlin
Verdis „Falstaff“ an der Komischen Oper Berlin
Berlin, 7. Mai 2022, Bernhard Metz

Verdis Falstaff an der Komischen Oper Berlin (Premiere 30. April, weitere Vorstellungen bis 9. Juli 2022) in der Regie von Barrie Kosky ist ein großer Spaß. Zumindest, wenn es nach dem Regisseur geht. Die mit dem Opern-Festival d’Aix-en-Provence und der Opéra National de Lyon in Koproduktion entwickelte und in Aix und Lyon letztjährig gezeigte Produktion ist flott und unterhaltsam – und passt an die Komische Oper und zu deren Felsenstein-Tradition. Zugleich ist es Koskys Abschiedsinszenierung, will er doch nach zehn Jahren als Intendant aufhören. Das Haus soll saniert werden, als Ko-Intendanz sind Susanne Moser und Philip Bröking vorgesehen.

Koskys Falstaff gerät nicht in allem perfekt. Verlegt in eine zeitlose Gegenwart, verweisen die Kostüme ins frühe 20. Jahrhundert, die sparsam dekorierte Bühne ins späte, von Katrin Lea Tag bunt, farbenprächtig und verspielt angelegt (gelungen die Lichtregie von Franck Evin, die mit der Beweglichkeit der Figuren klarkommt). Wir befinden uns in einer mediterranen Welt, Falstaff ist in der Küche tätig und trällert sich selbst eine Arie vor, Genussmensch durch und durch: Mehr Gourmand als Gourmet, eher Knoblauch als Trüffeln zugetan und sicher kein Vegetarier oder Fleischesverächter. Neben Gaumenfreuden auch den amourösen zugewandt, wobei der schürzentragende Schürzenjäger nackten Hintern und Bauch präsentiert. Diese Körperlichkeit ist natürlich, nicht exhibitionistisch. Scott Hendricks spielt keinen übergewichtigen Trunkenbold oder übergriffigen Sexualstraftäter, sondern einen charmanten und integrierten Lebenskünstler, Feinschmecker und Genießer, dem allerdings das Geld fehlt, diesen Lebensstandard zu finanzieren.

Man nimmt Kosky ab, wenn er für Oper und Libretto schwärmt („Es ist der vielleicht beste Text für eine Verdi-Oper und bei mir persönlich in den ‚Top Ten‘ der besten Opernlibretti aller Zeiten.“) und versichert, wie wichtig ihm die Hauptfigur sei, die man lieben müsse, um sie inszenieren zu können: „Falstaff ist ein Kind des Dionysos! Natürlich bin ich besessen von Dionysos, unserem Theatergott […]. Falstaff ist ein Bacchus in einer sehr menschlichen Form: Ein Mensch mit Problemen, Widersprüchen und Fehlern.“ Bardolfo (James Kryshak) und Pistola (Jens Larsen) passen als verräterisches Duo zusammen und übernehmen Falstaffs Körperlichkeit („Falstaff immenso! Enorme Falstaff!“) als plumpe Tölpel und Buffos. Die Fettleibigkeit und Versoffenheit Falstaffs wird den Komplementärfiguren übertragen; den gewitzten Lebenskünstler gibt Hendricks alleine.

Der aus Texas stammenden Bariton liefert einen brillanten (und meist geschmackssicheren, abgesehen von Perücken und Anzügen) Falstaff, der nicht nur formvollendet Italienisch singt und im Parlando intoniert, sondern zugleich – wie sonst nur Bryn Terfel, der bedeutendste Repräsentant dieser Rolle in den letzten Jahren – auch englischen Wit und Shakespearische Weltweisheit hineingibt, was nicht jedem so gut gelingt („Va, vecchio John, va, va per la tua via … Buon corpo di Sir John“ etwa gerät grandios).

Bardolfo und Pistola verdienen es, geschurigelt zu werden; mit dem von Ivan Turšić gut gesungenen und überzeugend gespielten Cajus hat man ebensowenig Mitleid. Früh am Morgen trifft er im Wirtshaus zum Hosenband keine schlafenden Trunkenbolde, sondern einen kochenden Frühaufsteher samt Genussadepten, der an den Töpfen werkelt und Zutaten abschmeckt, flambiert, mit dem Küchenbeil zerteilt und seinen Küchenlehrlingen den Speck wie Hündchen zuwirft. Hier gelingt Kosky ein neuer Blick, Falstaffs Gasthausrechnungen sind nicht die eines Fressers und Säufers, der sich vollstopft; sechs Hühner, 30 Krüge Sherry, drei Kapaunen oder zwei Fasane werden von einem Kochkünstler benötigt, der sein Handwerk beherrscht. Auch wenn er beim Abschmecken die große Kelle nimmt und immer aufisst, was er anrichtet. Innovativ, solche Traditionen aufzurufen, in der italienischen Oper verbunden mit Rossini oder in der französischen Literatur mit Balzac – Künstler, die Rezepte ersannen und sich genießend der Kochkunst hingaben.

Die lustigen Weiber von Windsor sind im Unterschied zum Titelhelden weniger sinnlich und kreativ, tragen keine Kochhauben oder -schürzen, sind oberflächlich erotisch aufgeladen und überzuckert. Ihr Metier ist der Zucker: Mit Sahnetüllen operieren sie an Torten herum (und stopfen sich den Süßkram begierig in die Münder), bleiben in der oralen Phase und schrillen Langweile hängen, die der deutlich erwachsener agierende Falstaff hinter sich ließ.

Zugleich bilden diese merry wives ein schön anzusehendes und gut zusammen agierendes und singendes Quartett, wenn auch mit Abstrichen; Nannetta ist mit Alma Sadé als Ford-Tochter nicht optimal besetzt bzw. zeitweilig schlecht kostümiert, sieht aus wie Hausangestellte oder Zimmermädchen. Gesanglich ist sie zu loben, wie auch Karolina Gumos als Meg Page. Verdient wurde diese am Premierenabend als Berliner Kammersängerin geehrt, Gumos ist eine Stütze dieses Ensembles und zeigt wiederholt ihre Vielfältigkeit, Ruzan Mantashyan als Alice Ford ist bildhübsch und Falstaffs Objekt der Begierde, singt überwältigend. Gleiches darf von Agnes Zwierko behauptet werden. Diese wirkt wie eine Reverenz an Koskys australischen Landsmann Barry Humphries und dessen Dame Edna Everage, wenn auch weniger tüdelig und deutlich dominanter.

Was Falstaff allen zehn Singenden abverlangt, nicht nur im Ensemble, sondern auch als Schauspieler, ist bekannt. Kosky fordert hohes Tempo und enorme Bühnenbeweglichkeit. Zudem fügt er witzige Ausrufe und Kommentare ein, so wird aus dem Bühnenoff gesungen (beim Abgang von Falstaff und Ford); oder Quickly äfft Falstaffs Ciaociao mit Winkehändchen nach, mit dem er sich gönnerhaft verabschiedet. Die Umbaupausen werden gefüllt, eine Frauen-, eine Männerstimme, dann beide zusammen verlesen lasziv angehaucht italienische Rezepte eines Dreigängemenüs, das aus Garnelen, mit Speck drapierten Kalbskottelets und überbackenen Pfirsichen besteht.

Diese Sängerleistung aus einem Guss verstärkt der ukrainische Tenor Oleksiy Palchykov als Fenton. Er ist beweglich, jung, idealer Schwiegersohn, obwohl Ford sich mit anderen Heiratsabsichten für seine Tochter trägt. Den singt Günter Papendell mit großer Stimme und stellt ihn blasiert und vereinsamt dar; niedergeschlagen im Gasthause, wo er als verkleideter Fontana zurückbleibt, während Falstaff sich in Schale wirft. Nach der Premierenvorstellung wurde auch Papendell als Berliner Kammersänger ausgezeichnet. Wie er Fords Eifersucht besingt („Laudata la gelosia“) oder seine Ehe-Hölle („O matrimonio, inferno!“), ist grandios.

Ainārs Rubiķis dirigiert das Orchester der Komischen Oper Berlin flott, delirierend schnell, wird aber trotz hohen Tempos nicht aus der Kurve getragen. Das Zusammenspiel mit den Sängern, darunter die Choristen (Leitung David Cavelius), gelingt präzise, Einsätze stimmen, Rhythmus und Dynamik sind ausgeprägt, übertönen nicht die Stimmen. Schön und prägnant etwa die Hörner, wobei deren besondere Rolle nur aus dem Bühnenoff zu vernehmen ist (Christian Müller und László Gál als Solisten); auch das auf der Bühne vorgeführte Gitarrenspiel wirkt deplaziert und ortlos, weil Alice ein Banjo zu spielen vorgibt.

So ist bei Kosky und Tag nicht alles gelungen. Statt Märchenwald um die Eiche des Jägers Herne gibt es ein leeres Betoncarré; zu Beginn mit Neonröhren-Putzlicht, später ohne. Dürftig, eine angemessene Stimmung kommt nicht auf. Der Gefühlsumschwung, den der letzte Akt (vom frierenden deprimierten Falstaff, der sich von allen verraten sieht, um vom Wirt nur noch das Getränk Magenkranker, einen Glühwein, zu erbitten) hin zur Euphorie bei der neuerlichen Einladung Alices bietet, verwischt. Statt sich als Hirsch zu schmücken, trägt Falstaff zwei halbe Baguette-Brote am Kopf, die wie Hasenohren hochstehen und über grauer Barock-Perücke wie ein schlechter Scherz wirken. Die anderen Darsteller, der Chor hat seinen großen Auftritt, sind schwarz angezogen und wirken mit bunt beschmierten Corona-Masken wie eine verunglückte Halloween-Party.

Durchgehudelt werden die lyrischen und intimen Melodien und Arien, die Falstaff trotz allem enthält, etwa das von Fenton und Nannetta gesungene „Bocca baciata“ oder Fentons „Dal labbro il canto estasiato vola“. Dass gerade diese Jungen die altmodischsten, jedoch anrührendsten und am stärksten zu Herzen gehenden Arien singen, ist bezeichnend. Die traumgleiche Partie der als Feenkönigin verkleideten Nannetta „Sul fil d’un soffio etesio“ gerät zu schnell, wird gefühllos durchgesungen. Dass Falstaff Feengesang zu hören glaubt, in einem magischen Sommernachtstraum verdämmert, wirkt unglaubwürdig. Er albert herum, zerstört den Zauber; als wisse er, dass alles nur Schauspiel ist und statt der aufgerufenen „Ninfe! Elfi! Silfi! Sirene!“ nur verkleidete Windsor-Einwohner herbeigekommen sind.

So fehlt diesem Falstaff die Katharsis und Errettung, nichts wird ernstgenommen; die Eiche des erhängten Herne fehlt wie die wilde Jagd mit Ängsten und Gewaltphantasien. Nichts ist bedrohlich, alles lustig. Falstaff wird weder gestochen noch gepikst, geschubst, geprügelt oder getreten, sondern nett angefasst, geherzt und umarmt, ein bisschen gekitzelt. Alle sind lieb zueinander. Es fehlt die derbe Körperlichkeit der Vorlage. Aus dem brutalen Spiessrutenlauf und der Todesangst des Opfers ist ein körperloser, luftiger Ringelpietz mit Anfassen geworden. Wenn drei lachende Männer sich an den Händen überkreuzen und im Temps levé wie Ballerinen über die Bühne hopsen, mag das unterhaltsam sein, verdreht aber den Sinn der Szene.

Verdis letzte Oper ist mehr als eine Komödie, eine Commedia lirica (auch tragica), wenn sie auch versöhnlich auszufallen bzw. alles gut zu enden scheint. Falstaff, Bardolfo und Pistola können ihre Rechnungen weiterhin nicht bezahlen, Cajus wird nicht mit der Frau verheiratet, die er ersehnt, sondern mit einem Mann, Ford ist düpiert, kann Alice auch in Zukunft kaum vertrauen. Für Kosky unproblematisch: „Falstaff hat ein Happy End, strotzt vor Vitalität und Hoffnung und birgt so viel Freude in sich, dass es fast ein Kontrastprogramm zu den ersten 79 Jahren Verdi ist. ‚Ending on a high note‘ – aber was für einer!“ Doch ganz so happy ist es halt doch alles nicht.

Das ist der Wermutstropfen dieser lustigen und über weite Strecken pfiffigen Inszenierung – dass Tragik und große Gefühle, die es nicht nur bei Falstaff oder Ford, sondern zumindest noch bei Nannetta und Fenton gibt, ins Unernste abschmieren. Das betrifft nicht nur den letzten Akt, sondern ganze Figurenzeichnungen. So wird sogar die Eifersuchtsarie von Ford lädiert. Man muss sich daher fragen, ob Falstaff so gefällig endet. Die Schlussfuge verheißt nur bedingt ein erfreuliches Ende. Arno Schmidts Schule der Atheisten war sie – in deutscher Übersetzung – als Motto vorangestellt, Zeichen einer letztlich sinnlosen Welt, die den Dritten Weltkrieg und atomaren Untergang Europas herbeiführte: „Alles ist Spaß auf Erden, der Mensch ein geborener Tor; (und dünkt er sich weise zu werden, ist er dümmer noch, als zuvor).“ Traurig stimmt entsprechend der Ukraine-Spendenaufruf, den Fenton-Darsteller Palchykov für sein zerstörtes Heimatland nach dem Schlussapplaus vorbringt. Wer in diesem Konflikt zuletzt lacht, ist weniger ausgemacht als die Frage, wer schon jetzt alles verloren hat.