Bereits die ersten Bläserakkorde aus dem Orchestergraben lassen einen die tragische Unausweichlichkeit des Schicksals spüren, das sich in den folgenden zwei Stunden auf der Bühne ereignen wird. Im nur wenige Takte langen Preludio zu seiner Oper Rigoletto macht Verdi in verdichteter Form die Tragweite seines Musikdramas deutlich, und trotzdem teilen viele Menschen die Einschätzung, diese Oper bestehe nur aus schmissigen Melodien und Arienschlagern, mit denen man Tiefkühlpizza im Fernsehen bewerben könne. Gegen dieses Vorurteil haben viele Verdi-Opern immer noch anzukämpfen, und ihre Dauerpräsenz auf den Spielplänen der Opernhäuser weltweit führte wohl zu einer Verflachung des Durchschnittsniveaus der einzelnen Aufführungen. „Verdi geht immer und Verdi kann jeder!“, so könnte man diese traurige Sachlage auf den Punkt bringen. Was es aber bräuchte, damit dieser Komponist und seine Opern wirklich zu ihrem Recht kommen, demonstrierte die Pariser Opéra national mit dieser Wiederaufnahme von Claus Guths Inszenierung von Rigoletto auf beeindruckende Weise: ganz einfach nur Sorgfalt auf allen Ebenen.
Die Regiearbeit von 2016 mag schon einige Jahre zurückliegen, aber die Neueinstudierung wirkt frisch wie am ersten Tag, alle Rädchen greifen ineinander, und es spricht für das Regieteam, dass man einen zeitlosen und dabei immer tiefgreifenden Blick auf diesen Stoff entwickelt hat.
Das zentrale Element des Bühnenbilds ist die überdimensionierte Nachbildung eines Umzugskartons, der zum Publikum hin geöffnet ist. Während des Vorspiels sieht man den Schauspieler Henri Bernard Guizirian, der einen gealterten Rigoletto (als traurigen Clown geschminkt) verkörpert, mit einem solchen Karton die Bühne betreten, dessen Inhalt er dem Publikum zeigt: Das Narrenkostüm und ein weißes Kleid mit einem Blutfleck, das er mit dem Ausdruck des schmerzlichen Verlusts an sein Gesicht schmiegt.
Dieser Blick in die tragische Geschichte des Protagonisten überträgt sich dann in die große Faltschachtel des Bühnenbilds, dessen theatralische Möglichkeiten (beispielsweise klappbare Flächen) eine große Bandbreite an Raumveränderungen und Lichteffekten zulassen, die dabei helfen, die Handlung bruchlos darzustellen. Guizirian führt uns mit seinem intensiven stummen Spiel wie ein Theatermeister durch die Aufführung und betont durch die Perspektive der Rückschau die Unausweichlichkeit des Endes. Allein die Videoprojektionen wirken überflüssig: Immer wieder eingestreute Slow-Motion-Clips zeigen zwar emotionale Schlüsselmomente in Rigolettos Leben, aber diese sind eigentlich in der Musik und im Schauspiel der Sängerinnen und Sänger ohnehin schon präsent. Zusätzlich zum gealterten Rigoletto treten außerdem Gilda-Doubles auf, die sie in früheren Entwicklungsstadien als Kind zeigen. Diese Doppelungen durch stumme Mimen hätten völlig ausgereicht, um die Gefühlstiefe der Erinnerungen zu verstärken, die Videos hingegen wirken deplatziert und lassen die Vermutung zu, dass Claus Guth der Eigendynamik der Oper nicht genug Vertrauen entgegenbringen konnte. Abgesehen davon überzeugt seine Lesart des Dramas jedoch gerade in ihrer Reduktion auf das Nötige, denn sie verweigert sich der Ausstattungsoper fürs Auge und richtet den Blick durchgehend auf die Figuren.
Auf der musikalischen Seite war diese Aufführung nahezu mustergültig. Selbstredend wartete das französische Publikum auf seinen Lokalmatadoren Ludovic Tézier, den derzeit unangefochten besten Verdi-Bariton, und es wurde nicht enttäuscht: Er durchlebt die komplexe Titelpartie des deformierten, tragischen Hofnarren mit Intensität, ja er legt Zeugnis von einer höchst fruchtbaren Auseinandersetzung mit der Musik ab. Darstellerisch mag Tézier bisweilen etwas hölzern wirken, aber was seine Stimme an emotionalen Abstufungen vermittelt, wie er sein edles Organ kantabel fluten lässt, wie er aber auch die heftigen Ausbrüche ansteuert und dabei stets mit absoluter Souveränität den Text deklamiert, das alles hat einfach Klasse und lässt an die großen Verdi-Stimmen vergangener Zeiten denken. Man fiebert mit Rigoletto, wenn er um seine Tochter fürchtet, und die Duette mit ihr geraten zu Perlen des erfüllten Musizierens. Für Ludovic Tézier gilt immer das Primat der Musik, selbst bei geschlossenen Augen wäre allein durch seinen Gesang das Drama präsent. Und es ist dem Sänger hoch anzurechnen, dass er sich durch seine Konzentration auf die großen Baritonrollen der Verdi-Opern ein Alleinstellungsmerkmal im heutigen Opernbetrieb geschaffen hat, der sonst bisweilen den Eindruck des „Anything goes“ in Besetzungsfragen erweckt.
Rigolettos Tochter Gilda erfährt durch Nadine Sierra eine ebenbürtige Deutung, denn die Sopranistin scheint genau zu wissen, welche Charaktertiefe Verdi dieser Rolle durch seine musikalische Gestaltungskraft verliehen hat. Von der Leichtigkeit der blitzsauberen (aber niemals zur oberflächlichen Zierde geratenden) Koloraturen über die mit zartem Schmelz gesungenen Melodien bis in jede Verzierung hinein setzt Sierra stets die richtigen Akzente und berührt das Publikum unmittelbar. Höhepunkte sind natürlich die Sehnsuchtsarie „Caro nome“, in der sie die in Noten gefassten Liebesgefühle bis hin zu fast orgasmisch anmutenden Trillern auf das Wort „desir“ steigert, aber natürlich auch die intensiven Zwiegespräche mit dem Vater. Ob in der Höhe oder in der Tiefe, Nadine Sierra beherrscht alle Register und zieht das Publikum in ihren Bann.
Dmitry Korchak hat als Herzog von Mantua keine solchen emotionalen Tiefen auszuloten, ist diese Rolle doch dem Charakter des zügellosen Machthabers gemäß eher für die Brillanz des Oberflächlichen, für Überschwang und Lebensfreude zuständig. Der russischstämmige Tenor nimmt mit seiner sich scheinbar mühelos in jede Höhe hebenden, hellen Stimme sofort für sich ein. Darstellerisch gibt er natürlich den Macho, der die Frauen reihenweise abschleppt, was manche klischeehafte tenorale Körperhaltung verzeihen lässt. Passenderweise tanzen während der Arie „La donna è mobile“ acht Grisetten um ihn herum, die seine Spitzentöne mit heftigem Hinternwackeln ironisch untermalen, was zu herzhaften Lachern im Publikum führt. Leider setzt Korchak zu Beginn des zweiten Teils im Quartett „Bella figlia d'amore“ auf der falschen Tonhöhe ein, was er erst ein paar Takte später korrigieren kann, nachdem die Begleitung durch das Orchester wieder lauter geworden ist. Trotzdem gelingt ihm ein absolut rollendeckendes Portrait; eine solche Stimme würde man sich an vielen Opernhäusern weltweit für diese Partie wünschen.
Unter den solide besetzten Nebenrollen ragt vor allem Justina Gringytė als Maddalena hervor, die ihren Mezzosopran als Instrument der Verführung gezielt zum Einsatz bringt und sich als schwarz gekleidete Domina in der Gruppe der Grisetten keineswegs verstecken muss.
Der Chorleiterin Ching-Lien Wu und der Choreographin Teresa Rotemberg gebürt ein besonderes Lob für die Betreuung des Männerchors der Opéra national de Paris, denn selten hat man einen Opernchor so spielfreudig agieren und singen sehen. Egal ob es sich um das „Zitti“ am Ende des Ersten Akts oder um die Untermalung des Gewitters im dritten handelt, immer meistern die Herren ihre stimmlichen und darstellerischen Herausforderungen mit Bravour.
Zu guter Letzt servierte auch das Orchester unter der inspirierenden Leitung von Giacomo Sagripanti einen stringenten und dramatischen Verdi ohne Anflug von kitschiger Rührseligkeit. Sagripanti steht damit in der Traditionslinie Toscaninis und Mutis und bringt dem Publikum Verdis kompositorisches Genie auf beeindruckende Weise zu Gehör, indem er beinahe eine symphonische Dimension befördert. Es wird darüber hinaus hörbar mit den Sängerinnen und Sängern im Dialog musiziert, Präzision und Eindringlichkeit prägen den Gesamteindruck. An vereinzelten Stellen hätte das Orchester sich noch sängerfreundlicher in die Piano-Ebenen der Dynamikskala begeben sollen, aber meistens stimmte die Balance perfekt.
Wenn Verdi also mit einer solchen Sorgfalt musiziert und inszeniert wird, wenn die Besetzung der tragenden Rollen ein derart hohes Niveau bietet, wie es hier der Fall war, dann wird selbst der oft unter der Routine der Opernhäuser leidende Rigoletto wieder zum Ereignis, dann befinden wir uns als Publikum mitten im Drama und lassen uns mitreißen. Und dann erfüllt sich auch der Wunsch Verdis, der sich mit diesem Werk zunehmend von der Tradition der Nummernoper wegbewegte, um zur Entfaltung eines großen Handlungsbogens zu gelangen. Hier in Paris wartete man jedenfalls nicht gelangweilt auf die altbekannten, schmissigen Leckerbissen, hier wurde die Spannungskurve von Anfang bis Ende entwickelt. Bitte mehr davon auch in anderen Opernhäusern!