Wie als Künstler umgehen mit der reichen, womöglich gar erdrückend reichen Vergangenheit? Wie sich verhalten zu Überlieferung und Tradition? John Neumeiers „Dornröschen“ zeigt eine Möglichkeit, die in doppelter Hinsicht als exemplarisch gelungen gelten darf. Wenn Choreographen wie etwa Martin Schläpfer das große Erbe der Ballett-Tradition schlankerhand unwillig entsorgen (sein Wiener „Dornröschen“ ist dafür ein abschreckendes Beispiel) oder andererseits Künstler wie Alexei Ratmansky mit größter Sorgfalt historisches Material rekonstruieren (seine Münchner „Paquita“ zeigte, wie das geht), so wählt John Neumeier einen dritten Weg. Sein Umgang mit der Geschichte ist dabei kein fauler Kompromiss, sondern höchst kreativ.
Ganz heutig beginnt denn auch seine Geschichte von Dornröschen. In Jeans und dunklem Hemd gehört Prinz Désiré unserer Gegenwart an, aber der Duft einer am Boden liegenden Blüte zieht ihn in seinen Bann. Ein Dorn (ausdrucksstark: Matias Oberlin) will ihm den Zutritt in die Tiefen eines nächtigen Märchenwaldes wehren, doch dank der Hilfe eines guten Geistes (Die Rose: Xue Lin) findet er den Weg zu einem Schloss aus längst vergangenen Tagen. Der König und die Königin (Edvin Revazov und Anna Laudere) sind Gestalten in überaus prächtigen Kostümen aus dem 19. Jahrhundert, mit denen Désiré nicht in Kontakt treten kann. Als unbemerkter Beobachter erfährt er, dass dem Paar die Geburt des ersehnten Nachwuchses bevorsteht. Er – und mit ihm die Zuschauer – erleben nun, wie das übrigens ziemlich trotzige Mädchen heranwächst und schließlich an seinem 16. Geburtstag fatal in den Finger gestochen wird: Ein Todesurteil, schon bei der Geburt verhängt von spukhaft ins Zimmer wabernden Dornengestalten, aber abgemildert von der liebevollen Figur der Rose zu hundertjährigem Schlaf. Das Herbstlaub weht vom Bühnenhimmel, Nebelschwaden ziehen auf, und die gesamte Festgesellschaft sinkt dahin und erstarrt. Erst nachdem Désiré, der sich weder von seinen Jagdkumpanen mit ihrem Bierkasten noch von wuchernden Dornenhecken hat abschrecken lassen, Aurora mit einem zarten Kuss auf den Mund wachgeküsst hat, gelingt es ihm, mit ihr in Kontakt zu treten. Sie und die vergangene Welt werden lebendig, und wie es im Märchen Brauch ist, wird alsbald die Hochzeit gefeiert. Nun wird der Staub von den alten Gemälden gefegt und die rankenden Dornen entfernt. Zwar möchte der Hoftanzmeister Catalabutte (Christopher Evens gibt ihn mit technischer Brillanz und spürbarem Vergnügen als wunderbar flamboyante Erscheinung) Désirés Jeans wie ein odioses Utensil verbannen und durch angemessen höfische Beinkleider ersetzen, aber zum Hochzeitsfest erscheint der Prinz dann eben doch wieder als moderne Figur (was Catalabutte mit entsetzten Gesten quittiert). Der Harmonie des Hochzeitstanzes zwischen ihm und Prinzessin Aurora im traditionellen Tutu schadet diese äußerliche Ungleichheit mitnichten: Madoka Sugai und Alessandro Frola zeigen klassischen Spitzentanz auf höchstem Niveau, präzise, federleicht und anmutig in den Soli, geschmeidig und bestens aufeinander abgestimmt als Paar. Und dann, nach einer zarten Geste der Hingabe Auroras, äußert sich die überwältigende Freude des Prinzen in einem ekstatischen Tanz. Mit welcher Energie der noch ganz junge Alessandro Frola hier agiert und schließlich auf dem Gipfel seiner Freude wie tot zusammenstürzt, ist schlichtweg atemberaubend. Jetzt schließt John Neumeier klug den Rahmen und findet mit leichter Hand zurück in die Gegenwart, in der Désiré sich plötzlich wiederfindet.
Wie sich in der Handlung die Zeitebenen überlagern, so auch in der Choreographie: Neumeier erzählt die Geschichte, indem er die klassische Fassung Petipas mit eigenen, neu erarbeiteten Sequenzen verbindet – beides fügt sich wunderbar zu einem großen Ballett-Abend. Er überzeugt auch, weil bei seiner Neufassung 2021 die alten Kostüme und Dekorationen von Jürgen Rose aus dem Jahr 1978 wiederverwendet, überarbeitet und ergänzt wurden. Auch hier ein reflektierter, verantwortungsvoller Umgang mit Vergangenheit, die nicht museal bleibt, sondern sich aufs schönste belebt. Zu diesem Eindruck trug Markus Lehtinens ansprechende Lesart der Partitur am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters bei, aus dem Joanna Kamenarsaka, Naomi Seiler und Olivia Jeremias solistisch hervortraten. Großer Jubel in Hamburg für ein Werk, das zeigt, dass Vergangenheit Zukunft hat.