„Ein ewig Rätsel will ich bleiben, mir und den anderen.“ So wünschte es sich König Ludwig II. Und vielleicht ist es gerade diese Rätselhaftigkeit, die Forscher und Künstler immer wieder dazu bewegt, sich mit diesem schillernden und schwer fassbaren Märchenkönig auseinanderzusetzen. Eine der spannendsten und kreativsten Aneignungen stammt von John Neumeier, der 1976 gemeinsam mit Jürgen Rose die Idee hatte, Ludwigs Lebensgeschichte mit dem Schwanensee-Stoff zu verbinden. Jetzt ist „Illusionen – wie Schwanensee“ wieder in Hamburg zu sehen. Am Sonntag wurde die 173. Vorstellung getanzt.
Neumeier verzahnt in seinem Handlungsballett geschickt die Geschichte eines Königs – er trägt deutlich die Züge von Ludwig dem II., aber auf biographische Übereinstimmungen kommt es hier nicht so sehr an – mit der des Prinzen Siegfried aus Tschaikowskys „Schwanensee“. Was haben diese beiden Figuren miteinander gemein? Und wie passt Tschaikowsky eigentlich ins Bild, wo Ludwig doch bekanntlich ein glühender Verehrer Richard Wagners gewesen ist? Es ist das Motiv der unerfüllten Liebe. Weder Tschaikowsky noch König Ludwig war es möglich, der Neigung zu Männern nachzugeben, ohne gesellschaftlich geächtet zu werden, und Prinz Siegfried liebt ein in einen Schwan verwandeltes Mädchen, das er nie wird erreichen können.
Neumeier erzählt seine Geschichte in drei großen Rückblenden. Die Handlung setzt kurz vor ihrem Ende ein: Der König wird auf einem glanzvollen Maskenball von Wärtern abgeführt. Alleingelassen in den unfertigen Räumen aus rohem Ziegelstein (Schloss Herrenchiemsee), erinnert er sich seiner unheilvollen Existenz.
Zunächst beschwört der König in seinen Gedanken ein Richtfest herauf. John Neumeier und Jürgen Rose entfalten hier ein Bild prallen Lebens: Vor herrlicher Bergkulisse versammelt sich das einfache Volk. Burschen in Lederhosen trinken Bier aus Steinkrügen, messen mit nackter Brust übermütig ihre Kräfte, raufen und ringen, fordern die Mädchen im kleidsamen Dirndl zum Tanz. Neumeier und seinen großartigen Tänzern gelingt dabei gleichsam eine Apotheose des Volksfestes. Doch die Lustbarkeit endet für den König, als der Hof Einzug hält und ihn seiner Pflichten erinnert. Er soll, wie Prinz Siegfried im „Schwanensee“, standesgemäß heiraten, hat aber kaum Augen für seine Verlobte Natalia. Während der Freund des Königs, Graf Alexander, mit seiner Braut innigen Umgang pflegt (wobei es Matias Oberlin und Xue Lin noch ein wenig an Sicherheit mangelt und manche Bewegung leider etwas verwackelt), gerät die Begegnung zwischen dem König und der zart anmutigen Natalia von Ida Praetorius stockend und kühl. Edvin Revazov ist als König eine eindrucksvolle, darstellerisch starke Erscheinung. Auch wenn ihm die Sprünge und Drehungen nicht (mehr) alle tadellos gelingen, meistert er die vielen Hebefiguren mit staunenswerter Leichtigkeit. Zwischen ihn und Natalia drängt sich „Der Mann im Schatten“, eine geheimnisvolle Figur, mit der Verführung, Wahnsinn, Begehren und Tod assoziiert werden kann. Florian Pohl stellt sie als anziehende und zugleich erschreckende Erscheinung dar. Wenn der König sich später in seiner zweiten Erinnerung die Separatvorstellung des „Schwanensee“ heraufbeschwört (hier in Lew Iwanows klassischer Fassung), so entpuppt sich König Rotbart als Mann in Schwarz, verhindert doch gerade er das Zusammenkommen zwischen Prinz Siegfried (Alessandro Frola) und Prinzessin Odette (brillant: Anna Laudere).
Auch im letzten Erinnerungsbild, dem Maskenball, ist der Mann im Schatten gegenwärtig. Die Szene führt zurück zum Beginn des Abends: Der König wird von Wärtern in Gewahrsam genommen und in jenes kahle Backsteinzimmer verbracht, in dem die Geschichte ihren Ausgang nahm. Seine Verlobte, Prinzessin Natalia, folgt ihm und nähert sich ihm zärtlich, wirbt um seine Liebe. Der Verzweifelte birgt seinen Kopf in ihrem Schoß wie in dem einer Mutter, schreckt vor dem Kuss aber panisch zurück. Natalia erreicht diesen Mann nicht, geht davon, kehrt doch ein letztes Mal auf winzigen Trippelschritten zurück – und wendet sich endgültig ab. Wie Edvin Revazov und Ida Praetorius diese ins Leere führende Begegnung darstellen, ist tief anrührend. Das Schluss-Bild, das darauf folgt, gehört zu den kraftvollsten Szenen, die Neumeier überhaupt choreographiert hat: Der Mann im Schatten bezwingt den König, unterwirft ihn mit herrischen Gesten, wobei darin für den anderen zugleich Lust und Befreiung liegen. Solchen beeindruckenden, höchst suggestiven Momenten verdankt der vom Philharmonischen Staatsorchester stimmungsvoll getragene Abend seine Größe und seelische Tiefe. Das Publikum dankt mit stehenden Ovationen.