Vielschichtige Illusionen
John Neumeris „Illusionen – wie Schwanensee“ beim Bayerischen Staatsballett
München, 31. Mai 2025, Christian Gohlke

„Ein ewig Rätsel will ich bleiben, mir und den anderen.“ So wünschte es sich König Ludwig II. Und vielleicht ist es gerade diese Rätselhaftigkeit, die Forscher und Künstler immer wieder dazu bewegt, sich mit diesem schillernden und schwer fassbaren Märchenkönig auseinanderzusetzen. Eine der spannendsten und kreativsten Aneignungen stammt von John Neumeier, der gemeinsam mit Jürgen Rose die Idee hatte, Ludwigs Lebensgeschichte mit dem Schwanensee-Stoff zu verbinden. 1976 hatte „Illusionen – wie Schwanensee“ in Hamburg Premiere, 2011 konnte das abendfüllende Ballett in den Spielplan des Bayerischen Staatsballetts übernommen werden. Nach neunjähriger Pause ist es jetzt, vorzüglich einstudiert, wieder im Repertoire.

Neumeier verzahnt geschickt die Geschichte eines Königs – er trägt deutlich die Züge von Ludwig II., aber auf biographische Übereinstimmungen kommt es hier nicht so sehr an – mit der des Prinzen Siegfried aus Tschaikowskys „Schwanensee“. Was haben diese beiden Figuren miteinander gemein? Und wie passt Tschaikowsky eigentlich ins Bild, wo Ludwig doch ein Verehrer Richard Wagners gewesen ist? Das Motiv der unerfüllten Liebe verbindet die drei Figuren: Weder Tschaikowsky noch König Ludwig war es möglich, der Neigung zu Männern offen nachzugeben, und Prinz Siegfried liebt ein in einen Schwan verwandeltes Mädchen, das er nie wird erreichen können.

Erzählt wird die Geschichte bei John Neumeier in drei großen Rückblenden. Die Handlung setzt kurz vor ihrem Ende ein: Der König wird auf einem glanzvollen Maskenball von Wärtern abgeführt. Alleingelassen in den unfertigen Räumen aus rohem Ziegelstein (Schloss Herrenchiemsee), erinnert er sich seiner unheilvollen Existenz.

Zunächst beschwört der König in seinen Gedanken ein Richtfest herauf. Vor malerischer Bergkulisse versammelt sich das einfache Volk. Burschen in Lederhosen trinken Bier aus Steinkrügen, messen mit nackter Brust übermütig ihre Kräfte, raufen und ringen, fordern die Mädchen im kleidsamen Dirndl zum Tanz. Neumeier gelingt dabei gleichsam die Apotheose des Volksfestes. Doch die Lustbarkeit endet für den König, als der Hof Einzug hält und ihn seiner Pflichten erinnert. Er soll, wie Prinz Siegfried im „Schwanensee“, standesgemäß heiraten, hat aber kaum Augen für seine Verlobte Natalia. Während der Freund des Königs, Graf Alexander, mit seiner Braut innigen, vor Zärtlichkeit überströmenden Umgang pflegt (hinreißend und mit schwebender Leichtigkeit als Ausdruck des Glückes getanzt von Margarita Fernandes und Antonio Casalinho), gerät die Begegnung zwischen dem König und Natalia eher stockend. Jakob Feyferlik meistert als nachdenklich und immer wieder zerstreut wirkender König die anspruchsvollen Sprünge und Drehungen und Hebefiguren mit Präzision und ist der zart anmutenden Ksenia Shevtsova ein immer sicherer Partner. Zwischen diese beiden, die sich ja durchaus mögen, drängt sich „Der Mann im Schatten“, eine geheimnisvolle Figur, mit der Verführung, Wahnsinn, Begehren und Tod assoziiert werden können. Severin Brunhuber tanzt diesen Part mit großer Präsenz. Wenn der König in seiner zweiten Erinnerung die Separatvorstellung des „Schwanensee“ heraufbeschwört (hier in Lew Iwanows klassischer Fassung), so entpuppt sich König Rotbart als Mann in Schwarz, verhindert doch gerade er das Zusammenkommen zwischen Prinz Siegfried (Matteo Dilaghi) und Prinzessin Odette, die Madison Young mit stupender Technik tanzt, getragen vom stimmungsvoll und dynamisch differenziert aufspielenden Staatsorchester unter der Leitung von Gavin Sutherland.

Auch im letzten Erinnerungsbild, dem Maskenball, ist der Mann im Schatten in Gestalt eines schwarzen Clowns gegenwärtig. Severin Brunhuber zeigt ihn mit komödiantischer Darstellungslust als umtriebigen Maître de Plaisir, der den Ball mit flamboyanten Gesten dirigiert. Die Szene führt zurück zum Beginn des Abends: Der König wird von Wärtern in Gewahrsam genommen und in jenes kahle Backsteinzimmer verbracht, in dem die Geschichte ihren Ausgang nahm. Seine Verlobte, Prinzessin Natalia, folgt ihm und nähert sich ihm zärtlich, wirbt um seine Liebe. Der Verzweifelte birgt seinen Kopf in ihrem Schoß wie in dem einer Mutter, schreckt vor dem Kuss aber panisch zurück. Natalia erreicht diesen Mann nicht, geht davon, kehrt doch ein letztes Mal auf winzigen Trippelschritten wie schwebend zu ihm zurück – und wendet sich resigniert endgültig ab. Wie Jakob Feyferlik und Ksenia Shevtsova diese ins Leere führende Begegnung darstellen, ist so tief anrührend, weil die emotionale, seelische Befindlichkeit der Figuren in jeder Geste durchscheint. Kaum hat Natalia die Szene verlassen, öffnet sich der Raum für ein Finale, das gewiss zu den eindrücklichsten der Ballett-Geschichte gehört. Feyferlik und Brunhuber zeigen die letzte Begegnung zwischen dem König und dem Mann im Schatten ganz stimmig weniger als gewaltsame Unterwerfung, sondern vielmehr als befreiende Auflösung und Hingabe: Nicht mit Aggression, sondern mit behutsamen, weichen, beinahe zärtlichen Gesten empfängt der Mann im Schatten den König, wiegt ihn für Augenblicke in seinen Armen, erlaubt, ermöglicht ihm Entgrenzung und Tod. Ein großer Abend. Das Publikum dankt mit Ovationen.