Volk als Held
Gioachino Rossinis Guillaume Tell an den Bühnen Bern
Bern, 20. Dezember 2022, Bernhard Metz

Rossinis letzte Oper, Guillaume Tell von 1829, ist seine bedeutendste Grand Opéra; danach hörte er mit 37 Jahren zwar nicht ganz mit dem Komponieren, wohl aber mit dem Musiktheater auf und widmete seine zweite Lebenshälfte verstärkt dem Kochen. Auch dies mit respektablen Ergebnissen (allein die Tournedos alla Rossini), trotzdem bleibt ein Schmerz darüber, was Rossinis Talent auch für die Oper noch hätte erschaffen können. Beim Tell wird dies besonders offensichtlich. Aufgrund der Größe und Komplexität wird dieser anders als berühmtere Rossini-Opern wie Tancredi, Barbiere oder Otello selten aufgeführt. Dennoch zeigt gerade der Tell, dass Rossini zu früh (oder auf dem Gipfel seiner Kunst) mit der Oper aufgehört hat, auch das Genre der Grand Opéra, sonst mit Auber, Meyerbeer oder Verdi assoziiert, verdankt ihm ein erstes Meisterwerk. Gerade in der Schweiz ist es gewagt, den Tell zu inszenieren; Bühnen Bern zeigt in Regie von Amélie Niermeyer und musikalisch geleitet von Sebastian Schwab mutig, wozu das Ensemble mit etwas Verstärkung in der Lage ist (Premiere 15. Oktober 2022, Derniere 26. März 2023).

Schwab dirigiert das Berner Symphonieorchester frisch und mit flotten Tempi, aber auch mit Blick auf das Anrührende und Gefühlvolle der Partitur. Allein die Ouvertüre mit dem berühmten Celloeinsatz gelingt ihm so zart und schön, dass alles Folgende nur noch glücken kann, wenngleich die wohl berühmteste Melodie der Oper, „that Wild West piece of Music“ (so Leonard Bernstein einmal ironisch im ersten seiner Young People's Concerts), der Galopp, den jeder kennt, ohne unbedingt zu wissen, wo er herstammt, in Bern erstmal wegfällt bzw. nach hinten gestellt wird. Entsprechend setzt die Oper nach der Pause vor dem dritten Akt noch einmal neu mit dem letzten Teil des Vorspiels ein. Jetzt ist allen klar, was sie vermisst haben. Das kann man machen, es ist aber ungewöhnlich; noch innovativer wäre es vielleicht gewesen, konsequenter zu stückeln und den vier Akten jeweils einen Ouvertüreteil voranzustellen; oder aber eben alles so zu belassen, wie es gewohnt ist bzw. wie es die meisten Inszenierungen halten.

Eine Grand Opéra ist auch für die Ausführenden immer eine Herausforderung, noch mehr an einem mittleren Haus; die Berner Bühne ist im Grunde zu klein, um einen so großen Chor (Chor und Extrachor der Bühnen Bern) sowie Statisten und Tänzer aufzunehmen (die sonst üblichen ausufernden Choreographien fallen allerdings bescheiden aus). Die Enge ist auch dem aufregenden Bühnenbild (Christian Schmidt) geschuldet, das über eine die meiste Zeit rotierende Drehbühne immerzu grell ausgeleuchtete Treppenhäuser und Türen zeigt und dabei eine unbehagliche Beklemmung produziert, was mit der glatten, strahlenden Reinheit der Oberflächen in auffälligem Kontrast steht (Licht Bernhard Bieri). Auf diese projiziert werden Videoeinspielungen (Janosch Abel), etwa die Wasser des Vierwaldstättersees, ein Wald, die Rütliwiese, zudem politische Demonstrationen und darauf folgende Polizeigewalt in Belarus, schließlich der Krieg in der Ukraine (am Ende plakativ: „KRIEG 1729km“ zum finalen „Liberté“-Gesang des Chores).

Ein starkes Bühnenbild, um es auf diese Weise zu erweitern und zugleich abzuschließen; die Weite der Welt und ihre Enge, die Weite der Schweiz und ihre Enge, die der Freiheit und ihre Beschränkungen, all das wird spürbar. Zugleich wird das Bauen mit Beton aufgerufen, das helvetische Architektur seit Jahrzehnten stilbildend prägt und zum Wahrzeichen der Swiss Architecture geworden ist. Dies wird von Interieurs begleitet, die heimeliger und zugleich unheimlicher kaum sein können: Jemmy ist vor dem ersten Akt im Kinderzimmer mit Bücherbord und Schreibtisch zu sehen, an den Wänden Tapeten mit beschneiten Bäumchen, Rehkitzen und Futterkrippen, sie „erlebt die politische Situation in ihrer Heimat zunehmend als repressiv“. Das kluge Kind stößt auf eine alte Geschichte und „macht sich Gedanken zum Thema Widerstand: Wann ist dieser gerechtfertigt mit allen brutalen Konsequenzen?“ Das ist die neue Rahmensetzung, die freilich nicht geschlossen wird, sondern in Videoprojektionen von zerstörten ukrainischen Wohnhäusern ausläuft (das Programmheft ist gespickt mit Zitaten aus Deaf Republic des Ukrainers Ilya Kaminsky von 2019, einem dieses Jahr besonders ins Bewusstsein gelangten politischen Prosa- und Lyrikzyklus, deutsch Republik der Taubheit).

Was dieser Tell gelungen umsetzt, ist das schweizerische Volk als Protagonisten in den Mittelpunkt zu rücken. Das ist in Rossinis Vorlage angelegt, jedoch stehen dort stärker Einzelpersonen im Mittelpunkt (der Titel allein zeigt es schon). Schillers Drama und Rossinis Bearbeitung wurde im 19. Jahrhundert bei weitem nicht die Bedeutung zugesprochen, die gerade dem Tell-Mythos als Initialmoment schweizerischer Demokratie (Rüttlischwur, Basisdemokratie, Freiheitlichkeit, Autonomie und Unbeugsamkeit gegenüber fremden Mächten, von Habsburg bis zur EU) seither gerne aufgebürdet wurde. Dass der Chor und das Volk die Hauptrolle zugewiesen bekommen, ist unter diesen Voraussetzungen genial gelöst. Die Solisten sind allesamt gut, teilweise wirklich exzellent besetzt, und doch ist es zugleich das Volk als Souverän selbst, dem Stimme und Körper, Entscheidungsgewalt und Macht zugestanden werden.

Was ebenso wie das Bühnenbild zur Spiegelung des Publikums anregt und einlädt, sind die Kostüme (Axel Aust). Wären sie historisch, wäre der Abstand größer, so jedoch sind Arnold Melcthal, Tell und alle anderen im mondänen Freizeitlook oder aber olivgrün und grau paramilitärisch uniformiert, in einer Kleidung, die leicht zur Jagd, aber noch besser zu bürgerlichen Milizen passen könnte. Bürger in Uniform, wobei seit Februar solcher Combat Style traurige Realität der Berichterstattung aus der Ukraine geworden ist und auch hohe Repräsentanten eingeholt hat.

Zugleich ist diese Inszenierung nicht einfach nur politisch und tagesaktuell, sondern nimmt auch das Genre und die gewaltigen stimmlichen Leistungen, die dort erforderlich sind, angemessen ernst. Arnold Melcthal ist von Anton Rositskiy realisiert stark und viril, singt aber auch seine hohen Partien gefühlvoll und intensiv. Er verliert Sympathien, wenn er (laut Libretto wird Gesler natürlich von Tell mit der Armbrust getötet) dem Tyrannen auf offener Bühne von hinten die Kehle durchschneidet. Das erinnert eher an IS und feigen Meuchelmord als an freiheitlich-demokratische Grundwerte und ist kurz vor Schluss ein echter Schocker; schlimmere Abweichungen gibt es sonst aber nicht, wenn auch relativ viele Striche vorliegen (Dramaturgie Rainer Karlitschek). Da Rositskiy zuvor mit der ebenfalls brillant singenden Masabane Cecilia Rangwanasha aus dem Berner Ensemble als Mathilde auch stimmlich großartig harmoniert, etwa bei „Oui, vous l’arrachez à mon âme“, aber auch in anderen Konstellationen, wird sogar dieser krasse Ausflug ins gore-Genre verzeihlich.

Tell ist mit Modestas Sedlevičius gleichfalls sehr gut besetzt, ihm ist eine bestens disponierte Claude Eichenberger als Hedwige zugesellt sowie Evgniya Sotnikova als gemeinsames Kind Jemmy (in der Premiere Giada Borelli), beide vom Berner Ensemble. Von dort kommen auch Christian Valle als Walther, Michał Prószyński als Rodolphe sowie in einer echten Glanzrolle Matheus França als böser, sadistischer Gesler, der schaudern lässt und die Macht eindrucksvoll verkörpert. Auch die anderen Solisten überzeugen, ein bisschen wackelig vielleicht, aber das hohe Alter dadurch gut vorstellend, Andreas Daum als alter Melcthal; Luis Magallanes singt Ruodi, Nicola Ziccardi hingegen Leuthold (in der Premiere gesungen von Filipe Manu und Jonathan McGovern).

Singt der Chor, singt mehr als eine Person; es gibt speziell in der Grand Opéra immer wieder beachtliche Versuche, den Mob, die Menge, die unkontrollierbare Masse auf der Bühne darzustellen und auch die Gewalt von Massenphänomenen zu zeigen (Meyerbeers Les Huguenots oder Wagners Rienzi wären dafür wohl andere prominente Beispiele, die implizite Darstellung der politischen Revolution auf der Opernbühne ist ohnehin das geheime Dauerthema der Grand Opéra). Bei Rossini und besonders in dieser Berner Inszenierung ist das Volk rational, klug, steht für kollektive Schwarmintelligenz, nicht für blinden Pöbel. Das ist auch musikalisch gelungen umgesetzt. Entsprechend ist ein weiteres Mal Zsolt Czetner, der diesen Chor leitet, besonders zu loben. Daneben gibt es Statisten und auch eine kleine Choreographie (Dustin Klein), die allerdings die große Tradition der Tanzeinlagen der Grand Opéra reduziert auf drei tanzende (dabei von Männern getanzte) Bräute. Aber man kann nicht alles haben, wenn das souveräne Volk zum Protagonisten und die Demokratie zum Helden einer Oper wird. Aktueller ist Musiktheater selten.