Sie haben Ihr monatliches Taschengeld erhalten und sind zum Schaufensterbummel unterwegs. Da werben Schallplatten um Ihre Wünsche, ein Gesamt-Goethe im Taschenbuchformat wirbt darum – und dieser schneidige Pullover. Sie wägen ab, Sie entscheiden sich. – Ein freies Wochenende steht bevor. Da ist ein kostbarer Tag zu gestalten, der von Alltagsarbeit einmal nicht behelligt wird. Sie können der Einladung von Freunden folgen – die werden eine größere Segelpartie unternehmen, und es wird vermutlich recht amüsant – oder Sie können sich auf einem einsamen Spaziergang endlich einmal über einen Gedanken klarwerden, ein Problem, eine Not, die Sie schon lange bedrängt. Sie wägen ab, Sie entscheiden sich und folgen der Einladung. Am Abend wissen Sie dann, dass Sie’s falsch gemacht haben: Der Tag blieb leer; er ist Ihnen nur so aus der Hand geglitten. Das ist schade, aber auch keine Tragödie. Es lässt sich voraussehen, dass Sie noch ein paar Sonntage zu besserer Verfügung frei haben. – Die großen Sommerferien rücken näher. Ein lockerer Plan, ganz unverbindlich noch, ist der gemeinsame Zelturlaub am dänischen Strand mit ein paar Klassenkameraden. Einstweilen rivalisiert mit solchen Vorsätzen allerdings noch der Brief eines französischen Korrespondenzfreundes, der Sie zu einem Pariser Aufenthalt überreden möchte. Zuletzt behauptet sich dann die Gegenwart Ihrer Kameraden gegen die französischen Worte auf dem Papier, und Sie fahren ins freundliche, nahe Dänemark und fühlen sich wohl dort. Aber vielleicht sind Sie auch nur mit halben Herzen mitgereist und träumen und trauern dem Reizvollen Anderen nach, das Ihnen nun entgangen ist: dem Pariser Leben, dem Atem der Weltstadt, die Sie geweitet hätte und auf unsägliche Art verändert, vielleicht. Solches Hinüberdenken, solche Reue, dieses nutzlose Hantieren mit dem „Wenn“ und dem „Hätte“ vergällt Ihnen dann die breiten stillen Tage im dänischen Norden. Sie sollten sich lösen davon: Immer bleibt ja die gegenwärtige Wirklichkeit benachteiligt neben den Wünschen und den Träumen. Und Sie haben den nächsten Sommer vor sich, zehn nächste Sommer, fünfzig! Wer zählt die überhaupt, wenn er achtzehn ist? In jedem, in jedem Sommer dürfen Sie’s noch besser machen, noch pfiffiger, vorsichtiger, ergiebiger. Gut, für diesmal haben Sie diese Wirklichkeit gewählt, das nächste Mal treten Sie ein in eine andere. In der zeitlichen Abfolge kommt dann beides zueinander.
So wägen Sie ab und entscheiden sich. Ihr ganzes Leben ist bis zum Rande gefüllt mit solchen Entscheidungen. Jeder Tag, jede Stunde ist voll davon. Ihr ganzes Dasein können Sie als ein solches Nacheinander von Entscheidungen begreifen, ein solches In- und Gegeneinander, das sich wechselseitig ablöst, aufhebt und im Wege ist.
Es gibt eine andere Art von Entscheidungen, eine radikal andere Art, eine unheimliche Art. Es gibt Dinge, die sich nur einmal zur Wahl stellen und dann nicht nochmals, niemals mehr dann. Fast lässt uns die Phantasie im Stich, wenn sie aufgefordert ist, sich das schlechthin Einmalige vorzustellen. Das Leben zum Beispiel, unser Leben, unsere in eine Individualität gebannte Existenz als unwiederholbar zu begreifen – das überfordert schon unsere Kraft. Als Junge habe ich mir eine Art Seelenwanderungslehre zurechtgemacht oder zurechtgefühlt, um das Unerhörte nicht ertragen zu müssen, dass es einmal ganz vorbei sein würde mit mir und meinen Augen. Alle die hohen Lehren von Bewährung und Auszeichnung in diesem Dasein, das fast religiös getönte Ruhmbedürfnis der Römer sind ein zitternder Reflex davon.
Und dies hier, das Jahr eintausendneunhundertdreiundsechzig, eine melancholisch lange Zahl, das ist nun Ihre Weltstunde. Sie sind jung, Sie haben diesen frischen, sprungbereiten Verstand; Sie wägen ab – Sie haben lange abgewogen; Sie entscheiden sich – endgültig – eines Montags, eines Donnerstags. Sie wählen einen Beruf. Wichtigeres werden Sie nie zu entscheiden haben – und nichts Schwereres. Wieviel genaue Phantasie brauchen Sie, um sich diese endlose Reihe von Alltagen vorzustellen, diesen wesentlichsten Teil Ihres Lebens, in dem Sie wirken sollen.
Sie wissen oder glauben zu wissen: Ich kann nur das tun im Leben, nichts anderes. Haben Sie geprüft, woher dieses Wissen kommt? Kommt es wirklich aus Ihnen – oder vielleicht aus den Wünschen oder vom Vorbild Ihrer Eltern, ein stummer Druck, der Sie unmerklich beugt und vielleicht verbiegt? Gibt es die unbefragte Berufstradition in Ihrer Familie, die Ihnen nur das zu erlauben scheint? Ein Freund von mir, selbst Pastorensohn, sollte wiederum Pastor werden wie schon sein Vater und Großvater zuvor. Das hatte ihm immer als selbstverständlich gegolten; andere Pläne kamen noch dem Obersekundaner gar nicht in den Sinn. Damals begann er die Philosophen zu lesen. Die verwandelten sein Bild von der Welt. In ein paar Monaten warfen sie sein Leben um und machten unmöglich, was bis dahin einzige Möglichkeit gewesen war. Er musste seinen Vater betrüben mit dem Bekenntnis, dass er niemals Pfarrer werden könne. – Kein Zweifel, Sie werden Ihren Vater betrüben, wenn Sie ihm eines Tages sagen müssen, Sie könnten Ihre größte Aufgabe nicht darin sehen, sein Geschäft fortzuführen, das er doch mit seiner besten Energie aufgebaut hat und für unendlich bewahrenswert hält. Sich ablösen oder selbst abstoßen zu müssen von solch ungeprüften alten Selbstverständlichkeiten – das kann schwer sein und sogar qualvoll. Das Ergebnis, der neue Standort, ist ja zunächst die bare Verneinung des Bisherigen. Trotzdem haben Sie viel gewonnen: den Raum der freien, unbehelligten und unverzerrten Entscheidung. Diese Entscheidung muss rücksichtslos sein; in ihr dürfen Sie kein Zugeständnis machen, wenn Sie Ihr Leben nicht mit Unzufriedenheit vergiften wollen, mit Neid und mit Reue.
Ich höre sagen: Du redest von diesem Beruf, als sei er das einzige im Leben. Es gibt doch noch anderes und Schöneres, und das beginnt doch erst am Feierabend. – Sicherlich, es gibt anderes und Schönes: die Familie, die Kinder, Kunst, Reisen, Sport. Aber das alles vom Beruf trennen und den als einen bloßen Seitenbezirk abgrenzen und abtun zu wollen, das ist ein kindisches und stumpfes Missverständnis, das von Phantasielosigkeit verschuldet wird. Unser Leben beginnt am Morgen, und unsere beste Kraft geben wir vor diesem Feierabend, der oft genug nur noch ein mattes Verklingen sein wird. Hüten Sie sich, bei Ihrer Entscheidung an den Abend mehr zu denken als an den Morgen! Sie können Ihr Leben nicht aufteilen in ein Hier und Da. Das eine wirkt ins andere hinein, verschattet oder erhellt es, und was hier schlimm ist, kann da nicht gut sein.
Ich habe nicht Lust, hier lange vom Gelde zu reden. Nicht einmal, weil ich Furcht hätte, irgendwelche idealistischen Hochgefühle damit in die Gemeinheit des Alltags hinabzuzerren. Sie haben natürlich die Verpflichtung, Ihre Zukunft auch materiell zu verankern und mit Ihren Plänen nicht ins Bodenlose zu geraten. Aber wenn Sie sich umschauen in der Welt, dann werden Sie doch wohl bemerken können: Ideal und Leben stehen in diesem Punkte nicht mehr so ganz trostlos polar zueinander, in diesem finsteren und erbitternden Gegensatz. Nicht einmal der Künstler beschränkt sich ja heute auf die Mansarden des Lebens. Nein, vom Gelde will ich darum nicht mehr reden, weil eine wesentlich finanziell beeinflusste Berufsentscheidung von ebender Täuschung zeugt, Beruf und „eigentliches“ Leben nebeneinander herlaufen zu lassen, eines als Mittel, als bloße Voraussetzung für das andere anzusehen. Hier sei nur wiederholt das knappe Wort des Historikers Theodor Mommsen, das in seiner Aktualität heute vermutlich beklemmender ist als damals: „Wenn der Mensch keinen Genuß mehr in der Arbeit findet und bloß arbeitet, um so schnell wie möglich zum Genuß zu gelangen, so ist es nur ein Zufall, wenn er kein Verbrecher wird.“
Ein Zeichen dafür, dass Sie sich’s schwer machen mit Ihrer Entscheidung, kann Unschlüssigkeit sein. Mancher von Ihnen ist in seiner Berufswahl noch unschlüssig, schiebt das noch vor sich her, ist ratlos, hat die Orientierung verloren. Unschlüssigkeit hebt sich ja ab von so manchem Hintergrund: Sie kann sein phantasiearme Bequemlichkeit, die sich im spannungslosen Entweder-Oder-Denken nur räkelt. Sie könnte vielleicht die doppelte Faszination sein, der Blick auf zwei Möglichkeiten, die beide gleichermaßen locken und von denen jede die gesuchte Selbstverwirklichung verspricht, ein Hin- und Herblicken, bedrängt von der Furcht, schon durch die Entscheidung selbst ärmer zu werden und vielleicht einen ganzen Bereich in sich verkümmern zu lassen und verdorren zuletzt. Vielleicht ist Unschlüssigkeit erwachsen aus der Einsicht, dass die bisher so festen Umrisse der Zukunft schwankend und unkenntlich geworden sind, dass ein unumstößlicher Plan plötzlich stürzte, eine Fähigkeit sich als kraftlos erwiesen hat, eine Sehnsucht als ohnmächtig, dass eine Sicherheit verstummt ist, dass man meint, ganz und gar gescheitert zu sein, hohl und nutzlos, dass man den letzten Optimismus, den letzten Glauben an dieses Ich noch zertreten möchte in Verzweiflung. Auch das kann Unschlüssigkeit sein: nackte Verzweiflung. Die sollten die Älteren, die Erwachsenen und Ergrauten nicht mit ihrem Lächeln besudeln. Sie würden lächeln, weil ihre Seelen Fett angesetzt hätten, weil ihre Phantasie ausgeglüht wäre und ihr Gedächtnis erloschen. – Was ist der Grund Ihrer Unschlüssigkeit? Ist das Verzweiflung – oder dieses schwindelerregende Doppelziel – oder nur Schläfrigkeit des Willens?
Unschlüssigkeit kann fruchtbar sein, auch wenn sie Verzweiflung ist – gerade dann. Sie ist nämlich gedankenreicher, bohrt tiefer als die oft ein wenig mechanische Kursstabilität derer, die ihre Richtung nie verloren haben.
Unsere Zeit scheint keinen Raum für solche Unschlüssigkeit zu lassen. Sie drängt auf das Eindeutige, Entschiedene, auf das geölte Funktionieren. Leicht erscheint ihr der Unschlüssige als Sand im Getriebe der großen Maschinerie. Sie tut ihn ab als nicht brauchbar, lässt ihn fallen, geht zur Tagesordnung über. Nun, zuweilen sind wir wohl alle versucht, ein wenig mehr Sand in dieses allzu geölte Getriebe zu wünschen.
Hier soll einmal ein etwas abseitiges Lob auf die Oberschule gesungen werden, das ihr vielleicht sogar selbst ein wenig fremd in die Ohren klingt. Sie sei gelobt, weil sie Ihnen die fruchtbare, spannungsreiche Schwebelage, dieses Unschlüssigsein-Dürfen, ein wenig länger erhält, als Sie’s irgendwo sonst heute erwarten können. Sie sei gelobt, weil Sie Ihnen vielleicht eine voreilige, kurzschlüssige, unreife Berufsentscheidung erspart, wie sie „da draußen“ ja schon der Vierzehnjährige zu treffen hat. Denken Sie für einen Augenblick daran, mit welcher Distanz, oder sogar mit welcher abgeklärten Reife Sie heute auf Ihre vierzehn Jahre hinablächeln! Mancher schüttelt nur noch den Kopf bei der Frage, wer oder was er damals wohl gewesen ist. Und gelobt sei diese Oberschule, weil Sie Ihnen die Jahre des Lernens – und eigentlich sind nur das wirkliche Jugendjahre – ein bisschen verlängert. Die Zoologen haben, so höre ich, herausgefunden, dass ein wesentliches Merkmal höherstehender Tierarten eine längere Jugendzeit bildet, gegenüber dem eiligen Hochschnellen der primitiveren zum Ausgewachsen- oder „Erwachsensein“. Dann seien Sie uns doch nicht allzu gram, wenn hier in diesem Hause von Ihren Lehrern Ihre Jugend noch ein wenig ausgedehnt wird, manchmal auch wohl um ein oder zwei Jahre überdehnt, zugegeben.
Unter diesem Blickwinkel sollten Sie auch einmal Ihren Stundenplan anschauen, das chaotische Fächerwerk, dessen klapperndes und unbekümmertes Nebeneinander Ihnen manchmal Bitterkeit oder Überdruss erregt. Immerhin erspart es Ihnen einstweilen die Scheuklappen, die Ihnen jede Fachausbildung später anlegen wird. Immerhin bietet Ihnen die Oberschule die letzte und heute einzige Möglichkeit eines allgemeinen Umblicks, eine Art Gesamtschau des Wissensgutes, das Sie natürlich nicht Ihr Leben lang umschließen können, das andererseits auch Sie nicht Ihr ganzes Leben lang umschlossen hält.
Mancher hier ist von Herzen schulmüde. Der – nahezu – unentrinnbare Druck so vieler Forderungen macht ihn mut- und kraftlos und lässt ihn Genesung nur noch außerhalb dieser Mauern erhoffen. Außerdem wächst in ihm zu immer größerer Dringlichkeit das Bedürfnis, selbst zu wirken, Einfluss zu nehmen, Verantwortung zu tragen. Das ist ein verständliches Bedürfnis, legitim und wünschenswert. Aber mitunter erinnert mich solche Bitterkeit in der Bank doch auch an den Kinderwunsch, das törichte Verlangen, das wir alle einmal hatten: nur möglichst schnell erwachsen zu sein, nur möglichst schnell hineinzuwachsen in Vaters Hut und Schuhe, in denen wir damals hochstaplerisch umherwateten. Wahrscheinlich nimmt man den eigenen Charme und Reiz dieser Jahre erst im Rückblick wahr und bemerkt erst aus dem Abstand des wirklich Erwachsenen, welche Einbußen, welches Erstarren, welche Abnahme des Gefühls man hat hinnehmen müssen seitdem. Wenn ich Ihnen versichere, dass es Ihnen mit diesen Jahren hier wohl noch ähnlich ergehen wird, dann glauben Sie mir natürlich kein Wort.
Von einem Kindertraum haben Sie sich ja alle jedenfalls schon gelöst oder lösen müssen: dem Berufswunsch oder Berufstraum, der auf die totale und endgültige Verbesserung der Welt hinauswollte und Sie zum Adjutanten des lieben Gottes gemacht hätte. Sie haben inzwischen gefunden, dass das Leben eben doch zu viele Richtungen und Bezirke hat, und Sie träumen genauer, mittlerweile, oder haben das überhaupt verabschiedet. Heute wissen Sie: Wenig werden Sie ändern können, in einem engen Kreis wird Ihr Einfluss spürbar sein. Aber Sie müssen – nicht nur um Ihretwillen, auch um der anderen willen – sorgsam abwägen und entscheiden. Das ist so wie mit der Demokratie: Man hat nur eine Stimme, aber man muss sie einsetzen, als gäbe gerade sie den Ausschlag. – ich wünsche Ihnen eine sichere Hand!
Morgenfeier an der Humboldt-Schule in Kiel, 27. Oktober 1963