Von Down Under an die Spitze
Navrin Turnbull tanzt die Partie des Lenski an der Mailänder Scala
Mailand, 18. November 2023, Eva Muzio
versione italiana

Die Saison der Mailänder Scala 2022/23 geht allmählich zu Ende, und auf dem Spielplan steht John Crankos berühmtes Ballett „Onegin“ mit unterschiedlichen Tänzern in den Hauptpartien. In der Vorstellung am 18. November glänzen der Lette Timofej Andrijashenko als Onegin und der Australier Navrin Turnbull in der Partie des jungen Dichters Lenski.

Schon äußerlich wird ihr unterschiedlicher Charakter unterstrichen durch die Farbe ihrer Kostüme: feierliches Tiefschwarz für den Egomanen Onegin, elegante helle Seide für den lebenslustigen, aufgeschlossenen Lenski. Mit seiner Partnerin Olga (Linda Giubelli) zeichnet er das Bild ihrer Beziehung in einem fast schwerelos erscheinenden Pas de deux. Tief ist sein Fall, nachdem er zufällig Zeuge des unverfrorenen Flirts Onegins mit Olga geworden ist. Eifersucht und verletzter Stolz kommen in einem langen Solo zu Beginn des zweiten Aktes zum Ausdruck, vielleicht auch Zweifel an der Richtigkeit seines Entschlusses, Onegin zum Duell herauszufordern, da letzterer ja der weitaus Erfahrenere ist und darum wohl als Sieger aus der Konfrontation hervorgehen wird. Navrin Turnbull gelang es meisterhaft, diese vielseitigen Gefühle tänzerisch anschaulich werden zu lassen. Am Ende der Vorstellung wird er mit ganz besonders lang anhaltendem Beifall belohnt.

Schon früh hat er den Aufstieg zum Solisten in der strengen Hierarchie des Balletts geschafft. An der Mailänder Scala, wo bis vor wenigen Jahren die Tänzer fast ausschließlich aus Italien kamen und an der eigenen Akademie ausgebildet wurden, ist das nicht selbstverständlich.

In einem langen Interview erzählt Navrin Turnbull, wie er nach Mailand gekommen ist: Vor 24 Jahren in Sydney geboren, entdeckte er mit 11 Jahren sein Interesse für Ballett. Nach den ersten Schritten in einer australischen Ballettschule machte er mit 15 Jahren den großen Sprung nach Europa, wo er in einem Wettbewerb in Lausanne in die engere Wahl kam und mit einem dreijährigen Stipendium an der berühmten John-Cranko-Schule in Stuttgart belohnt wurde. Seine erste Wahl war damals, nach der Ausbildung in Paris zu tanzen, aber nach einem Vortanzen in Wien bot sich ihm die Gelegenheit, dort als Mitglied des Corps de Ballet verpflichtet zu werden. Zwei Jahre später ergab sich die Gelegenheit, nach Moskau ans Bolschoi-Ballett zu wechseln, aber der Ausbruch der Corona-Pandemie machte diesen Plan zunichte.

Der Direktor des Wiener Balletts war seit 2010 Manuel Legris, jahrelang sowohl Etoile als auch Choreograph in Paris unter Rudolf Nureyev. Legris war auf Navrin Turnbull aufmerksam geworden, und als er 2020 seine neue Aufgabe in Mailand antrat, holte er den jungen Tänzer zu sich. Aber die italienische Bürokratie schlug unerbittlich zu, und Turnbull durfte als außereuropäischer Zuwanderer sechs lange Monate nicht tanzen, um nicht als illegaler Schwarzarbeiter zu gelten. Nur das entschiedene Eingreifen seines Arbeitgebers befreite ihn aus den Fallstricken der italienischen Einwanderungsgesetze. Heute hat Turnbull einen unbefristeten Vertrag, der lebenslang gültig ist und zu einer Rente berechtigt. Diese großzügige Regelung gibt es außer an der Scala nur an wenigen anderen europäischen Häusern. Für klassisch ausgebildete Tänzer ist die stolze Institution mit der langen Tradition sicher eine erste Adresse.

Die Bedeutung, die dem Mailänder Ballett beigemessen wird, zeigt sich auch daran, dass kürzlich ein neuer mehrstöckiger Anbau von Mario Botta an das bestehende historische Gebäude eingeweiht wurde. Die neuen Räume sollen fast ausschließlich als Probezentren für das Ballett dienen, wie die italienischen Zeitungen berichteten. Die Arbeitsbedingungen sind, Neubau hin oder her, äußerst anspruchsvoll und verlangen den totalen, bedingungslosen Einsatz: Jeden Tag Training von 10 bis 17 Uhr 30, unterbrochen lediglich von einer kurzen Mittagspause. Frei ist nur der Montag, und im August gibt es drei Wochen lang Ferien. Aber auch in seiner Freizeit muss der Tänzer ständig darauf bedacht sein, seinen Körper in Höchstform zu bewahren. Turnbull bemerkt, dass ein Tänzer nie Ermüdungserscheinungen zeigen sollte. Der Körper muss stark, aber flexibel bleiben und „darf nie gegen die Positionen kämpfen“, um sich nicht Verletzungen zuzufügen. Atemübungen sind unerlässlich, ein makellos gepflegtes Aussehen rundet das Erscheinungsbild des jungen Tänzers ab. Navrin Turnbull hat sich gut in Mailand eingelebt, spricht schon ziemlich gut Italienisch und hat Freundschaften unter den Kollegen geschlossen. Und wie viele Ausländer ist er fasziniert vom italienischen, oder besser gesagt Mailänder Lifestyle, der Warmherzigkeit der Menschen, deren ausgeprägtem Sinn für Ästhetik.

In seiner Rolle als Dichter Lenski, der am Ende der Brutalität Onegins zum Opfer fällt, hat er Gelegenheit, sein technisches Können, seine Sensibilität und seine außerordentliche Ausdrucksfähigkeit unter Beweis zu stellen. Die Rolle stellt für ihn womöglich das Sprungbrett für weitere bedeutende Engagements dar, und der junge Australier kann einer erfolgreichen Zukunft hoffnungsvoll entgegenblicken.