„Heute ist morgen“ beim Bayerischen Staatsballett
Das Bayerische Staatsballett präsentiert mit „Heute ist morgen“ drei zeitgenössische Choreographien und zeigt, wie reich und lebendig der Tanz unserer Gegenwart ist
München, 24. Juni 2021, Christian Gohlke

„Heute ist morgen“ heißt die von Ballett-Direktor Igor Zelensky initiierte Reihe, die Jahr für Jahr zum Ende der Saison und zum Auftakt der Festspielzeit jungen Choreographen die Möglichkeit gibt, sich mit neuen Werken einem breiteren Publikum zu präsentieren. Eine verdienstvolle Einrichtung – und eine spannende Erfahrung für Künstler und Zuschauer gleichermaßen. Anders als im Musiktheater oder im Schauspiel entstehen doch merkwürdigerweise gerade in dieser der Tradition und der Schönheit so stark verhafteten Kunstform immer wieder anspruchsvolle und zugleich erfolgreiche Werke. Drei Arbeiten wurden dieses Jahr im ausverkauften (aber nur zu einem Drittel besetzten) Prinzregententheater präsentiert.

Charlotte Edmonds „Generation Goldfish“ machte den Auftakt. Die junge Choreographin, die bereits in London und New York mit eigenen Werken vorstellig wurde, hat sich in München mit einem Thema auseinandergesetzt, das so relevant wie tänzerisch undankbar ist. Dass unsere Aufmerksamkeitsspanne immer geringer wird und es uns darum immer schwerer fällt, einen Gedanken konzentriert zu verfolgen, wird regelmäßig konstatiert und beklagt. Und weil nun offenbar aktuelle Forschungen gezeigt haben, dass – wenig überraschend – auch die Aufmerksamkeitsspanne von Goldfischen sehr kurz ist, tauft Charlotte Edmonds gleich eine ganze Generation auf den Namen Goldfisch. Die sechs Tänzer (drei Damen und drei Herren), die Namen wie Dusty, Finn, Gill oder Red tragen, sind darum merkwürdige Zwitterwesen mit sowohl menschlichen als auch fischartigen Eigenschaften. In den fließenden Kostümen von Susanne Stehle gleiten sie mit zitternden Flossenbewegungen zwischen Badewanne, Küchentisch und allerlei Sitzmöbeln zur blubbernden Elektro-Musik von Katya Richardson dahin, formieren sich zu schwarmähnlichen Gebilden oder treten solistisch in den Vordergrund. Dabei gelingen starke Momente. So etwa, wenn Finn (Navrin Turnbull) mit zuckenden und krampfhaften Bewegungen am Boden liegt – wie ein Fisch, der nach Luft schnappt, oder wie ein Mensch, der einen epileptischen Anfall erleidet. Oder wenn der schöne Goldfisch Gill mit nackter Brust und weiten Hosen erfolglos versucht, seiner inneren Stimme zu folgen, die ihn mit unverkennbar schweizerischem Akzent (warum eigentlich?) aus dem Off dazu auffordert, sich zu konzentrieren, aufrecht zu sitzen oder einzuatmen. Severin Brunhuber präsentiert diesen Part mit zarter Anmut und bestechender Eleganz. Die kleine Szene ist hinreißend getanzt – und offenbart zugleich das Problem der gesamten Choreographie: Die rein tänzerischen Ausdrucksmittel genügen nicht, um des Themas Herr zu werden, das Charlotte Edmonds sich vorgenommen hat. Es bedarf eben doch der kommentierenden Worte aus dem Off, um die Charakteristika der „Generation Goldfish“ (abreißende Gedankenfäden, Unkonzentriertheit, kurze Aufmerksamkeitsspannen) zu vermitteln.

Ein Thema – und gar ein so abstraktes wie im Werk von Edmonds – braucht man in „Tag Zwei“ nicht zu suchen. Özkan Ayik, aus der Türkei gebürtig und in Stuttgart ausgebildet, ist der Tanz sich selbst genug. Temporeich und energiegeladen bewegen sich die Tänzer ganz in schwarz vor ebenso schwarzem Bühnenhintergrund und präsentieren eine ansprechende Viertelstunde, der selbst die kurzatmige Goldfisch-Generation leicht und mühelos folgen kann.

Einen gänzlich anderen Ansatz als Edmonds und Ayik verfolgt wiederum Emil Faski mit seiner Arbeit „Othello“. Zwar behauptet der in Ufa geborene und in St. Petersburg zum klassischen Tänzer ausgebildete Künstler, dass es „völlig uninteressant“ wäre, Shakespeares Tragödie „choreographisch nachbuchstabieren“ zu wollen, weshalb er sich dafür entschieden habe, „nicht aus dem Blickwinkel Shakespeares, sondern aus jenem der Titelfigur Othello“ zu erzählen. Doch letztlich handelt es sich bei seinem knapp halbstündigen Werk um ein klassisches, handwerklich souverän gemachtes Handlungsballett. Es erinnert im Bewegungsvokabular stark an John Neumeier (Faski war viele Jahre lang Solist in Hamburg). Er reduziert die Geschichte auf die vier zentralen Figuren: Othello und Desdemona, Jago und Emilia. Eindrücklich gelingen ihm die Szenen der Konfrontation der beiden Männergestalten: Jonah Cook ist als Jago eine bedrohliche, getriebene Figur, die im eleganten Othello von Emilio Pavan ein leichtgläubiges Opfer findet, das mit großer Emotion auf die hinterhältigen Anspielungen über die fast noch kindlich wirkende Desdemona (Ksenia Ryzhkova) reagiert, wobei die Musik Schostakowitschs die Aufgewühltheit der Figur vielleicht allzu plakativ untermalt. Dass die Hautfarbe der Titelfigur bei Shakespeare „keine Rolle“ spiele, wie Faski in einem Interview behauptete, erspart dem Künstler zwar die Frage nach dem „black facing“. Nur ist seine These natürlich falsch: Wie Shylock als Jude, so ist Othello eben als „Moor of Venice“ (so der Untertitel der 1604 uraufgeführten Tragödie) angelegt. Tilgt man derartige Spezifika, so bleibt übrig, was Faski auf kahler Bühne zeigt: Eine Allerweltseifersuchtsgeschichte im leeren Raum. Groß war der Beifall des Publikums nach diesen drei so verschiedenartigen Uraufführungen im Prinzregententheater, für die Choreographen, vor allem aber für die glanzvolle Leistung der Tänzer des Bayerischen Staatsballetts.