Von Nathans Weisheit
Warum es sich lohnt, Lessings dramatisches Gedicht zu lesen. Anmerkungen zur ersten Szene
München, 17. September 2023, Werner Fischer

Wer weise ist auf dieser Welt – solcher sokratischen Frage gründlich, grundsätzlich nachzugehen, habe ich wenig Aussicht und wenig Lust. So viel immerhin: Weisheit ist sicher keine Kostbarkeit, die der Weise im staubigen Alltag schonte, um sie ganz der hohen, der Ausnahmesituation vorzubehalten, der schicksalsträchtigen, lebenwendenden Stunde. Weisheit, wo sie gewachsen ist und vor uns lebt, bewährt sich sicher auch alltags, jeden Augenblick, und sollte auch jedem Augenblicke abzulauschen sein und auch hier schon ahnungsweise zu ergreifen.

Nehmen wir also, um Weisheit immerhin bei einem Zipfel zu fassen, ein wenig teil an solchem Stück Alltag, wie es der approbierteste Weise deutscher Literatur, Lessings Nathan, gleich eingangs uns vorlebt. Das ist nun freilich ein literarischer Alltag, ein stilisierter also und nicht photographierter, eben künstlerisch gerafft und gefiltert. Aber es bleibt instruktiv und erheiternd, dass Lessing gerade mit solchem Alltag beginnt, dass es hier kein dramatisch steiles Anheben gibt, nichts von „Aber ist Euch auch wohl, Vater?“ oder: „Nichts mehr! Kein Wort mehr! Es ist am Tag.“ Lessings Ausgangssituation, vergleichsweise, ist entspannt, lässt den Leser, den Theaterbesucher nicht schon beim ersten Wort erbleichen, ist, materiell gesehen, bloßer Lebensdurchschnitt.

Da ist soeben Nathan, der begüterte Kaufmann, von einer längeren Handelsreise zurückgekehrt. Im Gespräch mit Daja, der Gesellschafterin seiner Adoptivtochter, erfährt er nun, welches Unheil während seiner Abwesenheit sein Haus betroffen hat und um ein Haar auch sein Kind betroffen hätte: eine Feuersbrunst, aus der das junge Mädchen erst in letzter Sekunde von einem überraschend auftauchenden Ausländer gerettet worden ist.

Ein Ereignis von schlimmer Wichtigkeit – aber Nathan hat es nicht selbst erlebt und ist auf einen Bericht davon angewiesen. Welcher Bericht ihm zuteil wird, wie er ihn entgegennimmt, wie er ihn aufhellt, reduziert, für sich, für die anderen sacht und gütig zurechtrückt, das lesend und schauend zu verfolgen, ist ein hohes Vergnügen und – wenn wir Lessing folgen wollen – ein Vergnügen zudem, nicht ohne hübsche, leise Belehrung darüber, was Weisheit auch sei. Wir wollen sehen.

Berichte sind dem Sachverhalt, den sie spiegeln sollen, nicht immer ganz kongruent, und Dajas Bericht ist das nun gewiss nicht, jedenfalls nicht in dem einen Punkt, der die Person des Retters angeht. Hier haben sich nämlich die beiden Frauen und zumal Recha, die lieblich-naive, blutjunge Tochter Nathans, ihre Gedanken gemacht, verschwärmte, gefühlsnebelige, auch wohl ein wenig wunsch- oder notgeborene Gedanken. Ein Bild haben sie sich gemacht von Rechas Retter, und der soll nun schlicht und recht ein Bote des Himmels, ein Engel gewesen sein. In ihren Ideen fühlen sich die beiden auch nicht sehr behindert durch die handfeste Auskunft, mit der übrigens auch Daja ihren Bericht beginnt, es handle sich bei dem Fremden um einen vom Sultan begnadigten Tempelherrn. Für seine himmlische Herkunft spricht mindestens die unbestreitbare Tatsache, dass er, nach vollbrachter Rettung, spurlos in der Menge des gaffenden Sensationspöbels untergetaucht ist. „Er kam, und niemand weiß woher, er ging, und niemand weiß wohin“, meint sie, fromm betroffen von der umwitterten Symmetrie dieses dunklen Woher und Wohin. Ohne die Anlage des Hauses im geringsten zu kennen, hat er „durch Flamm und Rauch“ das Mädchen gefunden, es aus dem Feuer geborgen – „und ist – verschwunden!“, wie Daja mit bedeutsamer Pause und, wir dürfen glauben, mit metaphysischem Timbre verlauten lässt. Dabei hätte es dann wohl am besten bleiben sollen, da Engelserscheinung und Engelswirken notorisch kurzfristig ausfallen. Dieser kompromisslerische Engel aber hat sich, so hören wir und hört Nathan, auch danach noch mehrfach sehen lassen. Freilich fügt Daja gleich zweimal hinzu, hartnäckig wiederholend sozusagen, dass dies an ganz besonderer Stelle geschehen ist, an der zu wandeln sich denn auch wohl Himmlische nichts vergeben. Man sah ihn nämlich, gibt sie zu Protokoll, „unter Palmen auf und nieder wandeln, die dort des Auferstandnen Grab umschatten.“ Immerhin! Und wie erinnert sie sich dieser Begegnung? „Ich nahte mich ihm mit Entzücken…“ Mit Entzücken also; Freude, Überraschung, Vergnügen wären vermutlich zu triviale und irdische Gefühle angesichts einer Epiphanie. Und da der Retter einmal ein Engel ist, nennt Daja vor diesem die junge Recha, die ihm ja danken möchte, kurzerhand eine „fromme Kreatur“. Könnte sie – solchem Gesprächspartner gegenüber – das Mädchen auch mit einer besseren, sozusagen zweckmäßigeren Eigenschaft empfehlen als eben mit „fromm“? Und „Kreatur“ klingt schlechterdings alttestamentarisch, möchte jeden Gedanken an Parität und vertrauliches Brückenschlagen auslöschen.

Drollige, urweibliche Umkehrung der Dinge: Erst jetzt, nach ihrem „Bericht“, dessen Akzente in diesem einen Punkt doch vom ersten Worte an höchst eigenwillig gesetzt waren, erst jetzt teilt Daja dem alten Nathan mit, was Recha, ihren Retter betreffend, sich in den Kopf gesetzt hat. Ihrerseits zieht sie sich sogar auf einen nur halben Glauben zurück, der Nathans Skepsis immerhin Rechnung trägt, sie am Ende gar halb und halb zu teilen scheint – eine gemütvolle, biegsame Seele!

Nathans Skepsis siebt bedachtsam die Information aus der Sandlast der Gefühle, setzt tatsachenschürfende Fragen, auch einmal sachte Ironie gegen Dajas und später besonders gegen Rechas in Gefühl schwimmenden Worte. Schon Dajas erstem „Verschwunden“ begegnet er, alle Bedeutsamkeit überhörend, mit der Wirklichkeitsfrage: „Nicht auf immer, will ich hoffen.“ Den Retter vom Himmel nennt er, einigermaßen blasphemisch, einen „wilden, launigen Schutzengel“ und verspricht der alten Daja mit Lächeln und behutsam parodistischem Predigerstil: „wenn ihm noch beliebt, hinieden unter uns zu wallen, (…) find ich ihn gewiss und bring ihn her“, wozu diese in einer Art frommer Skepsis meint: „Ihr unternehmet viel.“

Aber Dajas „Bericht“ war nur der Anfang dessen, was Nathan über die wunderbare Rettung seiner Tochter zu hören bekommt. Auch Recha selbst, und sie erst recht, will das Ereignis in überirdischem Lichte sehen; auch bei ihr „verschwand“ der Retter in höhere Bereiche, und diesmal reagiert Nathan schärfer, verätzt diese Gefühlsmolluske von Wort mit Ratio: „Verschwand? – Wie denn verschwand? – Sich untern Palmen nicht ferner sehen ließ?“ Er geht weiter, beutelt die Seelen der beiden Frauen, die in dergleichen Wolken-Wunder allzu verliebt scheinen, setzt eine andere Auffassung von Wunder dagegen, sublimer, irdisch gebrochener, weniger anspruchsvoll, näher der Wirklichkeit. Und da er seine Recha heilen möchte von solchem wirklichkeitsflüchtigem Wunderglauben, züchtigt er ihre emporverlangende Phantasie mit der tristen und ganz unmetaphysischen Gegenvorstellung, dass der „Engel“ am Ende möchte krank geworden sein und nur deswegen am Wiedererscheinen verhindert. Selbst aufs potentiale Totenbett legt er ihn für ein paar Augenblicke vor dem entsetzten Mädchen, lässt ihn freilich schnell wieder genesen – zum handgreiflichen Menschen, dem man immerhin helfen könnte, dem man doch einen Gegendienst wird leisten können. – –

Eine halbe Stunde Alltag mit Nathan, dem Weisen. Was geschieht darin? Nathan begegnet Worten, in denen Wirklichkeit sich nur trübe spiegelt. Nathan gewinnt die ganze Wirklichkeit, indem er die Worte und die sie im Munde führen mit genauer Liebe betrachtet, sie selbst zur Genauigkeit, zum hellen Hinblicken führt, ihre Gefühle klärt. Er ist, wissenschaftlich gesprochen, Philologe und Pädagoge, beides in einem.

Nun, Nathans Alltag ist der unsere wohl auch. Wie er, so begegnen auch wir alle jeden Augenblick diesem trüben Wirklichkeitsspiegel, dem unscharfen Wort, das von Gefühlen fortgerissen wurde, darin ertrunken ist. Fortwährend haben auch wir dergleichen leise zurechtzurücken – für uns, für den anderen. Es braucht ja, in Gottes Namen, nicht immer geradezu darauf hinauszulaufen, einem Engel die Flügel stutzen zu müssen, und nicht nur gefühlstrübe Verschwärmtheit gilt es aufzuhellen; es mag krankes Selbstbewusstsein oder steiler Stolz sein, verhehlte Schuld, wildwüchsige Phantasie, davonlaufende Rhetorik, die schmeichelnde oder höhnende, von blindem Hass oder blinder Liebe verschuldete Entstellung. Beinahe dauernd sind wir im Nebel des Ungenauen, entglittenen, verzerrten, vielleicht vergifteten Wortes, das zwischen uns und der Wirklichkeit steht. Überall kommen uns Worte entgegen, die wir nicht wörtlich nehmen dürfen. Wir lesen in Zeitungen, in denen Information und Meinung vorsätzlich oder fahrlässig gemischt sind. Wir ducken uns unterm Hagel einer Werbung, die von der verzuckernden Lüge lebt. Wir fügen uns aber auch selbst im Alltag mit geöltem Schnurren taktierend, funktionierend ein ins große Räderwerk, leise lügend. Wir werden belogen, grell und dissonant oder sacht in Zwischentönen, sind verstrickt in unser Wort, reden im Eifer, im Grimm, aus tausend Gegebenheiten und Vorbehalten heraus, die der andere nicht oder nicht ganz kennen kann, die wir vielleicht selbst mangelhaft kennen. Erst später – wenn wir Glück haben – bemerken wir wohl, wieviel an unseren Worten aufzuhellen, zu reduzieren, zurechtzurücken war.

Was uns gestern, kürzlich, letzten Sommer begegnet oder zugestoßen ist – wie haben wir’s den Freunden, den Eltern, uns selber erzählt? Was uns heute Vormittag begegnen oder zustoßen wird, wie wird’s klingen, mittags überm Suppenteller? Und – heißt unser Vater Nathan?

(März 1968)