Von Porter und Portalen
Was alkoholische Getränke und Türen auf Thomas Manns „Zauberberg“ gemeinsam haben
München, 12. November 2023, Lena Wittland

Beim genauen Lesen des „Zauberberg“-Romans von Thomas Mann stolpert man förmlich über die Silbe „Port-“. Da gibt es das von einem Portier bewachte Berghofportal, durch das der Protagonist Castorp und seine Mitpatienten zum täglichen Genusswandel das Sanatorium verlassen, dann sind da die Portieren, jene meist offenen Schiebetüren zwischen den Gesellschaftsräumen im Erdgeschoss des Gebäudes, und nicht zuletzt Castorps breites Repertoire an Genussmitteln, das vom Porter über den Portwein bis hin zu den Importzigaretten reicht. Weil Thomas Mann die sogenannte Leitmotivtechnik, also das subtile Streuen von Assoziationstriggern zu bestimmten Themengebieten, in sämtlichen Werken nutzte, stellt sich hier die Frage, was Porter und Portale auf dem Zauberberg verbindet.

„Port-“ Was heißt das eigentlich?

Um dem auf den Grund zu gehen, lohnt sich ein genauerer Blick auf die Bedeutung der Silbe „Port-“, die in vielen gebräuchlichen Wörtern wie dem Transport, Städtenamen wie Porto oder Harry Potters Portschlüsseln vorkommt. Ein Port bezeichnet einen Hafen, einen Ort der Verbindung also, eine Schnittstelle, wie sie auch vom Begriff des Portals benannt wird. Gerade das Portal kann neben räumlich-geographischen Toren auch eher immaterielle Verbindungsstellen bezeichnen, wie es bei einem Internetportal der Fall ist oder an den Portaltagen, an denen sich laut Mayakalender das Tor zwischen der weltlichen und der spirituellen Ebene öffnet. Sollen womöglich die physischen Portieren, Tore und Portale des Berghofsanatoriums den Blick auf Übertritte und Eintritte auf anderer Ebene lenken? Und welche Rolle spielen die Genussmittel hierbei?

Der erste „Eintritt“

Während Hans Castorp sich in der Eisenbahn durch die steile Berglandschaft bewegt, erfährt der Leser, dass der junge Mann eigentlich kurz vor „dem Eintritt in die Praxis bei Tunder und Wilms“ (ZB, S.10), einer Schiffswerft, Maschinenbaufabrik und Kesselschmiede, steht. Statt auf seinem normalen Lebensweg den Schritt vom Schülerdasein ins Arbeitsleben zu gehen, erfolgt dann aber ein ganz anderer Eintritt, nämlich jener durch das Berghofportal. Dass es sich hierbei tatsächlich um eine antagonistische Handlungsalternative zum Eintritt in die Arbeit handelt, wird durch den Posten des Eintrittsgeldes unterstrichen, welches Castorp am Ende seiner ersten Woche im Verwaltungsbüro des Sanatoriums bezahlen muss. Statt in den Geldverdienst einzutreten, gibt er Geld für einen Eintritt aus, statt in der aufstrebenden Arbeitswelt zu landen, landet er in der von Krankheit und Tod geprägten, degenerierenden Welt des Lungensanatoriums. An dieser Stelle findet somit ein folgenschwerer Übertritt in eine andere Lebenswelt statt, in der, wie Castorp von seinem Vetter erklärt bekommt, völlig andere Regeln gelten. „Die springen hier um mit der menschlichen Zeit [...]. Drei Wochen sind wie ein Tag [...]. Man ändert hier seine Begriffe“ (ZB. S. 14), vermittelt Vetter Joachim dem zuerst irritierten Ankömmling, der Jahre später selbst mit identischen Worten einen weiteren neuen Gast begrüßt. Damit zeigt er, dass er bereits vollends in diese Sphäre der veränderten Begriffe integriert ist.

Und nicht nur die veränderten Zeitdimensionen nimmt Castorp an, er beginnt auch mit Patientenbesuchen das Leben im Sanatorium mitzugestalten und die Routine aus Essen, Fiebermessen und Liegekur, die sogenannte „horizontale Lebensweise“, geht ihm förmlich in Fleisch und Blut über. Es stellt sich also heraus, dass der physische Eintritt durch das Berghofportal einen immateriellen Eintritt, beinah eine Initiation in eine andere Welt, markiert. Und auch anhand der Türen und Portieren im Sanatorium selbst wird eine weitreichende Verbindung inszeniert: Die Bekanntschaft von Hans Castorp und Madame Chauchat, der markant aussehenden Russin, die die Aufmerksamkeit des jungen Mannes sofort auf sich zieht.

Die „fatale“ Tür

„Plötzlich zuckte Hans Castorp geärgert und beleidigt zusammen. Eine Tür war zugefallen, es war die Tür links vorn, die gleich in die Halle führte, – und jemand hatte sie zufallen lassen [...]“. (ZB, S. 65) Mit diesem Knallen der Tür des Speisesaals beginnt Castorps Interesse für Chauchat, das schnell von Verärgerung in Schwärmerei übergeht und sich stets vor dem Hintergrund der Türen abspielt. Nach den ersten Blickwechseln wartet der junge Hanseat bei den Mahlzeiten sehnsüchtig auf das charakteristische Türenknallen, bald darauf versucht er sich selbst zu verspäten, was dazu führt, dass er Chauchat einmal die Türe aufhält. Ist sie nicht zugegen, wirft er Blicke durch die Portieren, um sie in den angelegenen Gesellschaftsräumen ausfindig zu machen, und zuletzt probiert er sogar selbst, wie es sich anfühle, eine Tür hinter sich zuknallen zu lassen. Ein wichtiger Grund für Chauchats Wirkung auf Castorp liegt dabei nicht direkt in ihr, sondern in Castorps Erinnerung, derer er sich erst im Laufe der Handlung bewusst wird.

Das Porter-Portal

Aufgrund seiner chronischen Blutarmut, die auch dem Hofrat Dr. Behrens im Sanatorium sogleich auffällt, wurde Castorp bereits in Kindertagen vom Arzt ein alltäglicher Porter empfohlen. Das dunkle Bier gehörte seitdem als Porterfrühstück fest zu Hans Castorps Leben. So verwundert es nicht, dass der Ankömmling gleich bei den ersten Mahlzeiten nach einem Porter verlangt. Da dieser nicht vorhanden ist, nimmt er nun tagtäglich raue Mengen an Kulmbacher Bier zu sich, welches ganz wie der Porter „Hans Castorps Lebensgeister auf eine ihm schätzenswerte Weise besänftigte, seiner Neigung, zu ‚dösen‘[...] und ohne einen festen Gedanken ins Leere zu träumen, [...] Vorschub leistete“. (ZB, S. 44) Auf diese Weise wird der Porterersatz seiner Wirkung als Portal gerecht, denn nach seinem Genuss sinkt der junge Mann immer wieder in einen Schlaf, dessen wilden Träume mal prophetisch-konstruktiv die Zukunft vorausdeuten, mal Erinnerungen aus der Vergangenheit heraufbefördern. Gleich in mehreren dieser Träume erlebt Castorp eine Situation aus seiner Kindheit wieder, in der er von einem Mitschüler namens Pribislav Hippe einen Bleistift ausleiht. Neben dem oberflächlichen Ausleihen des Schreibgeräts ist diese Szene eindeutig sexuell konnotiert, wobei der Bleistift, ein ein- und ausfahrbares Crayon, als Phallussymbol identifiziert werden kann. Zudem träumt er, dass nicht Hippe, sondern Chauchat ihm einen Stift geliehen habe, und im Erwachen wird ihm klar, dass es das markante Gesicht Madame Chauchats ist, welches ihn an seinen Mitschüler erinnert und dass seine Liebe für sie wohl in der Liebe für ihn wurzelt. Ihren Höhepunkt erreicht die Annäherung von Chauchat und Castorp bei den Festlichkeiten zur Walpurgisnacht, in der sowohl die alkoholischen Getränke als auch die Türen eine zentrale Rolle spielen.

Die Walpurgisnacht

Nachdem zur Feier des Tages einiges an Hochprozentigem geflossen ist, spielen die Patienten des Lungensanatorims ein „Schweinchen-Zeichnen“, doch beim Versuch zu partizipieren, fällt Hans Castorp auf, dass der eigene Bleistift zu kurz ist. Er wirft den Stummel (wir erinnern uns: das Symbol für die geschlechtliche Lust) in den Punsch und überwindet sich, ganz wie in seinem Traum, Chauchat nach einem Bleistift zu fragen. Das so zustande gekommene Gespräch geht in einen traumartigen Zustand über, indem der eigentlich deutschsprachige Protagonist seinem französischsprachigen Schwarm in deren Landessprache seine Liebe gesteht und schlussendlich vor ihr kniet, als sie sich auf den Weg zur Türe macht. „Adieu, mon Prince Carneval“, verabschiedet sie sich noch, gleitet dann zur Tür, „in deren Rahmen sie zögert [], halb rückwärts gewandt, einen ihrer nackten Arme erhoben, die Hand an der Türangel“ (ZB, S. 471) und Castorp über die Schulter hinweg bittet, ihr das Crayon später zurückzugeben. So legt der Text nahe, ohne dies direkt auszusprechen, dass es nach diesem Gespräch zu einer Liebesnacht zwischen dem jungen Verliebten und der Russin kommt. Deutlich wird zudem, wie erneut Tür und Spirituose Momente des Übertritts (bzw. des potenziellen Übertritts) markieren. Der Alkohol des Abends stimuliert erneut den Eintritt in einen traumähnlichen Zustand, in eine Sphäre zwischen Traumwelt und Realität, in der Sprachbarriere und Vernunft keine Rolle mehr spielen. Die Türschwelle, über die Castorp Chauchat folgen soll, weist hingegen auf einen potentiellen Schritt auf Castorps Lebensweg hin. Ebenso wie der Eintritt in die Arbeitswelt, den der Heranwachsende mit dem Eintritt ins Sanatorium vertauschte, bleibt auch der Eintritt in eine sexuelle Beziehung auf der Schwelle stehen und der Protagonist geht nicht den natürlichen Schritt in Richtung einer Partnerschaft. Am Folgetag reist Chauchat ab, sodass sich Castop vorerst mit anderen Dingen beschäftigen muss, wie zum Beispiel dem Skifahren. Doch selbst bei sportlicher Tätigkeit darf der Portwein natürlich nicht fehlen.

Der Schneetraum

Im darauffolgenden Winter steht Hans Castorp auf den Brettern und fährt auf eigene Faust in den Schnee. Nach einigem Bergauf und Bergab gerät er völlig verirrt in einen Schneesturm, stellt sich an einer Hüttenwand unter und nimmt einen Schluck von seinem Reiseproviant, einer Flasche Portwein, die ihre Wirkung nicht verfehlt. Kurz darauf versinkt der erschöpfte Skifahrer in einen Traum, der ihn auf die Tempelstufen einer italienischen Landschaft führt. Vor sich betrachtet er eine säugende Mutter, dreht sich dann um und geht durch das Tempeltor und eine weitere Tür in das Innerste der heiligen Stätte. Wie ihm draußen das erblühende Leben begegnet, trifft Castorp hier auf den leibhaftigen Tod: zwei alte Weiber zerreißen einen Säugling und fressen dessen Körper auf. Im darauffolgenden Erwachen bewirken diese Bilder einen Zustand der Erleuchtung bei Hans Castorp: Er stellt fest, der Mensch solle „um der Güte und Liebe willen dem Tod keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“ (ZB, S.677) Zwar vergisst er diesen tiefgründigen Gedanken wieder, kaum dass er sich bei besserem Wetter ins Sanatorium gerettet hat, dennoch lässt sich an dieser Szene dieselbe Funktion von Portwein und Portal feststellen. Ersterer verursachte den Übertritt in den Traum, zweitgenanntes ermöglichte ihm eine kurze Initiation in den Sinn des Lebens.

Ein Fazit

Was ist es nun also, das Thomas Mann über die vielen „Port-“ Begriffe in seinen Roman einflicht? Und worauf kann es den Leser aufmerksam machen?

Offenbar markieren sowohl Castorps Genussmittel als auch die vielen Szenen, die im Umfeld von Portalen und Portieren stattfinden, Punkte im Roman, an denen Übertritte oder Eintritte (potenziell) passieren. Gerade Portwein, Porter und dergleichen machen den Übertritt in eine Traumwirklichkeit möglich, in der Vergangenheit und Zukunft mit der Gegenwart verschmelzen. Die ganz konkreten Portieren und Portale wiederum spielen häufig im Kontext einer Initiation, also eines Eintritts auf eine neue Entwicklungsstufe, eine Rolle. Hierbei werden die tatsächlich vollzogenen Eintritte mit den potenziellen Eintritten kontrastiert, sodass die Frage in den Vordergrund rückt, ob und, wenn ja, wie sich Hans Castorp weiterentwickelt. Im Verlauf des Romans gleiten 7 Jahre seines Lebens dahin, ohne dass die Zeit wirklich voranzuschreiten scheint. Doch heißt das, dass der junge Protagonist weder dazulernt noch eine Entwicklung durchläuft?

Während Thomas Mann das Werk selbst als Bildungs- und somit Entwicklungsroman betitelte, gibt es in der Forschung auch prominente Stimmen, die von einem „Entbildungsroman“ oder sogar einer „Verfallsgeschichte“ sprechen. Gerade die Gattungsdefinition des Bildungsromans mit Goethes Willhelm Meister als Urtyp macht es schwer, Castorps „abwegige“ Entwicklung als einen konstruktiven Bildungsweg zu identifizieren. Während Wilhelm Meister in seinen Lehrjahren zu einem Beruf findet, Verantwortung übernimmt und seine Lebenspartnerin kennenlernt, macht Castorp es sich im Sanatorium gemütlich, seine Lektüre wissenschaftlicher Bücher während der Liegekur verfolgt kein konkretes Ziel, und er vollzieht auch den Schritt von der Herkunfts- zu einer eigenen Gründungsfamilie nicht.

Doch vielleicht ist es gerade die zeitgeschichtliche Perspektive auf den Roman, die dennoch ein Voranschreiten erkennbar macht. Ein Leben inmitten von Kranken und Leidenden, der Verzicht auf die natürlichen Entwicklungsschritte wie Arbeit, Partnerwahl und Familiengründung und stattdessen das Kennenlernen des Todes lassen sich im Kontext des ersten Weltkrieges durchaus als möglicher Lebensentwurf und mögliche Entwicklung eines jungen Mannes verstehen. Aus meiner Sicht eröffnet es einen gewinnbringenden Blick auf den Roman, Verfall nicht zwingend als Ausschlusskriterium für Entwicklung zu begreifen. So kann die zeitgeschichtlich aufschlussreiche Verschränkung der beiden Tendenzen in den Fokus gelangen. Schließlich ist es gerade das gleichzeitige Erleben von Tod und Geburt, von Verfall und Entwicklung, das Castorp im Kapitel Schneetraum zu seinem höchsten Erkenntnismoment führt.

Quellen: Alle unter dem Kürzel ZB vermerkten Seitenangaben beziehen sich auf Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt/Main 1991.