Das Werk gilt als eines der ersten großen romantischen Handlungsballette: Ohne „La Sylphide“ von Filippo Taglioni, uraufgeführt 1832 in Paris, wären weder „Giselle“ noch „Schwanensee“, weder „Bayadère“ noch „Dornröschen“ vorstellbar. Es ist schön und verdienstvoll, dass Laurent Hilaire, Direktor des Bayerischen Staatsballetts, sich dazu entschlossen hat, die Rekonstruktion der Originalfassung, die Pierre Lacotte 1972 für die Pariser Oper schuf, jetzt nach München zu übernehmen. Schließlich haben die wenigen klassischen Kompanien auch die Verpflichtung, die reiche Tradition der Ballett-Geschichte lebendig zu erhalten.
Wenn sich der Vorhang öffnet, fällt der Blick aufs Innere eines Bauernhauses. Vor dem Kamin sitzt der schlafende James, ganz in schottisches Karo gewandet, im Lehnstuhl. Eine Sylphide im weißen Tutu mit kleinen Flügelchen erscheint dem Träumenden, umkreist und umwirbt ihn lautlos. Ksenia Shevtsova verleiht dieser unirdischen Figur mit grazilen Armbewegungen etwas Sphärisch-Schwebendes, zeigt die Sylphide aber auch als begehrende, trickreich um James werbende Frau. Filigran ist ihre flinke Beinarbeit, von hoher Anmut ihre Erscheinung. Kein Wunder, dass der Umgarnte sich nicht mehr abfinden kann mit der frisch-fröhlichen Schottenwelt um ihn her, zu der leider auch seine Verlobte Effie gehört. Ihre Mutter (Séverine Ferrolier) führt die geschmückte Braut heran, doch nicht James begrüßt sie, sondern Gurn (Matteo Dilaghi), der unsterblich in das Mädchen verliebt ist. James hingegen blickt immer wieder zum Kamin, in dem das schöne Geistwesen ganz plötzlich verschwunden ist. Und tatsächlich erschient die Sylphide wieder im Raum, wobei nur James sie wahrnimmt. Das Hochzeitsfest wird vorbereitet und verschafft António Casalinho und Margarita Fernandes die Gelegenheit, als Gäste der Feier mit einer furiosen Einlage zu glänzen. Später kann sich Jakob Feyferlik im Pas de deux zum weich und sinnlich gespielten Cello-Solo (Jakob Spahn) als verlässlicher, sicherer Tanzpartner zeigen, dann zumal, wenn sich die Szene zum Pas de troit erweitert, weil die Sylphide sich in den Hochzeitstanz zwischen James und Effie drängt – und schließlich sogar die Zeremonie der Trauung unterbricht. James hält nichts mehr, es zieht ihn davon. Die Hochzeitsgesellschaft bleibt einigermaßen düpiert zurück. Unheil verkündet die recht konventionelle, vom Staatsorchester unter Myron Romaul aber mit Schmelz dargebotene Musik von Jean-Madeleine Schneitzhoeffer zu Beginn des zweiten Aktes. Zottelige Hexen tanzen um einen Kessel herum, dem sie schließlich ein zartes Gespinst entnehmen. Damit soll James sein flüchtiges Geistwesen an sich binden, wie die Oberhexe Madge (Robin Strona) ihm bedeutet. Zuvor jedoch darf sich der romantische Zauber eines weißen Aktes entfalten. Zu immer neuen Formationen und Ornamenten finden im tiefen Wald die Damen des Staatsballetts in ihren knielangen Taftgewändern, unterbrochen von solistischen Einlagen, die zeigen, wie virtuos Feyferlik und Shevtsova das Bewegungsvokabular des klassischen Tanzes beherrschen. Doch als er sie mit dem Hexenkessel-Tuch fesseln möchte, ist es aus mit aller Leichtigkeit und nächtlichem Zauber. Die Flügel fallen ihr vom Rücken, entseelt sinkt die Sylphide zu Boden und wird von ihren Geistergeschwistern in höhere Sphären davongetragen. James bleibt verzweifelt zurück und muss nicht nur den Spott der Hexe erdulden. Im Hintergrund wird seine frühere Braut Effi von Gurn zum Traualtar geführt. Da bleibt dem verblendeten Schotten nur die Verzweiflung. Besinnungslos stürzt er zu Boden.
So war die Premiere von „La Sylphide“ im Münchner Nationaltheater nicht nur interessant für ein Publikum, das an der Tanzgeschichte interessiert ist, sondern dank der hervorragenden Leistung des Staatsballetts bereichernd auch für jeden, der sich den Sinn für naiv erzählte, romantische Geschichten bewahrt hat. Dem Dank, den der Ballettdirektor nach der Aufführung in Form einiger Promotionen aussprach (Carollina Bastos und Margarita Fernandes steigen vom Demi-Solo zu Solistinnen auf, Severin Brunhuber, Matteo Dilaghi, Konstantin Ivkin und Zachary Rogers wechseln vom Corps de ballet zu den Demi-Solisten), kann man sich nur anschließen.