„Die Meistersinger“ und „Tannhäuser“ in Bayreuth
Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ und „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ am 26. und 27. Juli 2021 während der 109. Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth
Bayreuth, 12. August 2021, Bernhard Metz

Bayreuth, das ist ewige Wiederholung. Jahr für Jahr eine Auswahl der immer gleichen zehn Opern Richard Wagners, als Neuinszenierung oder Wiederaufnahme: Seit 1876 meist der vierteilige „Ring des Nibelungen“ mit Rheingold, Walküre, Siegfried und Götterdämmerung; erstmals 1882 und bislang am häufigsten Parsifal, seit 1886 Tristan und Isolde, seit 1888 Die Meistersinger von Nürnberg, seit 1891 Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg, seit 1894 Lohengrin, seit 1901 Der fliegende Holländer. Keine Varianz, was diesen Werkkanon angeht, der hin und wieder durch Sonderkonzerte und gelegentliche Aufführungen der Neunten Beethoven ergänzt wird. Anderes war im Festspielhaus offiziell nie zu hören. Zugleich von Beginn an Unregelmäßigkeiten, konnten die Festspiele doch erst 1882 wiederholt werden. Finanzierungsprobleme, Inflationen, Kriege, mehr aber noch Nachkriegszeiten, ideologische Aufräumarbeiten und nötige Neuanfänge („Neubayreuth“) verhinderten Kontinuität, so dass die Richard-Wagner-Festspiele, wie sie heute heißen, erst seit 1951 jährlich stattfinden, meist vom 25. Juli bis zum 28. August. Das hielt an bis 2019; SARS-CoV-2 beendete diese Tradition und führte letztes Jahr zur Absage auch des ältesten Opernfestivals der Welt. Es besteht damit seit 145 Jahren, konnte 2021 aber erst seine 109. Durchführung feiern. Ihr kommt als erster „nach Corona“, als Neu- und Wiederanfang, besondere Bedeutung zu.

Nach Corona – das heißt mit beziehungsweise trotz Corona. Die 109. Bayreuther Festspiele finden in der dritten (vierten, gar fünften?) Welle statt und bleiben ein prekäres Unternehmen; ob der Spielplan durchgehalten werden kann, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. So blieb zwar möglichst viel beim Alten, musste jedoch nicht wenig geändert werden: Es gab wieder eine Neuinszenierung, diesmal den Holländer (Dmitrij Tscherniakow/Oksana Lyniv), aber wieder keine Ring-Neuinszenierung wie für 2020 geplant. Sie wurde auf 2022 verschoben, als Ersatz ein eintägiger „Ring 20.21“ mit Rheingold-Performance und Puppenspiel im Park des Grünen Hügels, konzertanter Walküre mit Hermann Nitsch-Kunst(blut)aktion, „Sei Siegfried“-Mitmachangebot zur virtuellen Drachentötung mit VR-Brille. Statt Götterdämmerung ein „Thread of Fate“/„Schicksalsfaden“-Objekt von Chiharu Shiota und ein konzertanter Parsifal, von Christian Thielemann dirigiert. Immerhin aber zwei Wiederaufnahmen der ohnehin besten Bayreuther Stücke der letzten Jahre, Barrie Koskys Meistersinger von 2017 unter Philippe Jordan sowie der 2019 erstmals in Regie von Tobias Kratzer aufgeführte Tannhäuser, dirigiert von Axel Kober. Corona-Notprogramm und Lückenfüller bis 2022, Weiterführung des Altbekannten oder doch Beginn einer neuen Ära? Irgendwie alles zusammen, es „klang so alt und war doch so neu“, wie in den Meistersingern. Spürbar war, dass 2019 ein Scheidepunkt bleiben wird, wie ihn nur die Unterbrechung nach 1944 bedeutete, als die Festspiele erst 1951 wieder einsetzen konnten. Von Neubayreuth zu Neuneubayreuth, als Folge einer Pandemie.

Der vorliegende Aufführungsbericht interessiert sich für die beiden Wiederaufnahmen von Meistersingern und Tannhäuser der Saison 2021 unter der Perspektive, was vom Bayreuther Opernbetrieb rettbar ist oder – vermessen – auch in Zukunft besser anders bleiben sollte. Beide Werke thematisieren wie keine anderen Wagners die Problematik von Kunst, ihrer Aufführbarkeit, Produktion und Reproduktion, der sozialen Stellung von Kunst und Künstler, durch ihre offen ausgestellten Paragone- und Wettstreit-Situationen unterschiedliche Perspektiven auf Altes und Neues, Tradition und Innovation, Regeln und Regelverletzung, auf Politik, Kultur, Religion, konfessionelle und nationale Streitigkeiten. Meistersinger und Tannhäuser sind daneben, sogar durch entsprechende Äußerungen Wagners, aufeinander bezogen, als Komödie und damit verbundene Tragödie, als zwei Seiten einer Problematik (Wagner 1851 in seiner Mittheilung an meine Freunde: „Wie bei den Athenern ein heiteres Satyrspiel auf die Tragödie folgte, erschien mir […] das Bild eines komischen Spieles, das in Wahrheit als beziehungsvolles Satyrspiel meinem ‚Sängerkriege auf Wartburg‘ sich anschließen konnte. Es waren dieß ‚die Meistersinger zu Nürnberg‘, mit Hans Sachs an der Spitze […] als die letzte Erscheinung des künstlerisch produktiven Volksgeistes“).

Beide sind Meta-Opern, stärker als andere selbstreflexiv, was durch die Bühnenbilder und Einrichtungen der hier thematisierten Inszenierungen verstärkt wird: Vorspiel und erster Aufzug der Kosky-Meistersinger spielen in Wagners familiärem Umfeld im Wappensaal der Villa Wahnfried, dritte und vierte Szene des ersten Aufzugs des Kratzer-Tannhäuser nicht im Schatten der Wartburg, sondern vor dem Grünen Hügel mit Festspielhaus, der zweite und dritte Aufzug sogar explizit darin, wenn die Sängerhalle, die vom Zuschauerraum als auch über Backstage-Videoeinspielungen zu sehen ist, als Relikt älterer Bühnenbilder erkennbar wird; der Pilgerchor („Zu dir wall’ ich“) ist wie Bayreuth-Wallfahrer festlich gekleidet und mit tagesaktuellen Programmheften versehen, der einstige Bayreuther Heldentenor Heinrich Tannhäuser kehrt mit Tannhäuser-Partitur im Gepäck zurück, die er zur Rom-Erzählung effektvoll zerreißt etc. Die Produktionen ergänzen sich ideal: Kosky inszeniert die Meistersinger als tragische Komödie, in der das Lachen zunehmend vergiftet wird, Kratzer den Tannhäuser als komische Tragödie, in der anfangs aufgrund der Vielfalt an witzigen Einfällen und kulturellen Referenzen viel gelacht wird, der dritte Aufzug jedoch so abgründig-traurig als Scheitern revolutionärer Utopien spürbar wird, dass selbst der grünende Stab keine Hoffnung mehr verheißt. Beide verbindet enormer Erfolg, für die Saison 2017/18 bzw. 2019/20 wurden sie in der Opernwelt-Kritikerumfrage jeweils zur „Aufführung des Jahres“ gewählt, was einer Bayreuth-Inszenierung zuletzt 2009 mit Parsifal (Stefan Herheim/Daniele Gatti) glückte.

Bayreuth 2021 und vielleicht noch in den kommenden Spielzeiten bedeutet, dass nicht nur soziale Events neben und nach den Aufführungen wegfallen oder nur digital stattfinden, etwa die seit 2008 gängigen Einführungsvorträge von Sven Friedrich virtuell über Zoom angeboten werden, sondern auch, dass ein Hygienekonzept realisiert wurde (es findet sich unter „Bayreuth in Zeiten von Corona“ etwa in der Handreichung des Freunde-Vereins), durch reduzierte Plätze (911 statt 1974) und verbindliche Registrierungen (nicht nur der Eintrittskarten, sondern auch des Publikums vor Ort). Nur am Tag der Aufführung ist bis spätestens eine Stunde vor Beginn nachzuweisen, dass nicht nur die Eintrittskarte korrekt personalisiert und mit Tracking-Informationen versehen wurde, sondern zudem ein tagesaktueller Test oder Impf-/Genesenenstatus vorliegt; dafür gibt es ein neonfarbenes Festivalbändchen. Die Besucher des Grünen Hügels erkennt man daran auch außerhalb (wer mehrere Aufführungen besucht, kann das ältere um weitere Bändchen ergänzen und seine Zugehörigkeit anzeigen; Statusgewinn nicht mehr durch gute Plätze, besondere Kleidung oder teuren Schmuck, sondern durch neonfarbenen Tyvek-Kunststoff).

Das wohl Ungewöhnlichste an den Corona-Festspielen 2021 aber ist: Es gibt wieder Karten, mehr als früher und noch am Tag der Aufführungen selbst, sogar für die Holländer-Premiere. Woran alle Umstrukturierungs- und Neuverteilungsversuche der letzten Jahre, die den Vorwurf mangelnder Durchsichtigkeit, unklarer Vergabewege und horrender Schwarzmarktpreise nie entkräften konnten, scheiterten, hat die Pandemie auf ihre Weise gelöst: Es gibt Karten, auch für die laufende Festspielsaison. Das wird sich in die Zukunft kaum retten lassen und ist dem Umstand geschuldet, dass besonders für internationale Besucher etwa aus Amerika oder Asien eine Einreise nach Deutschland (speziell Bayern) schwer kalkulierbar bleibt. Aber es ist erstaunlich, macht man sich anhand einfachster Rechnungen klar, was dies (selbst einnahmetechnisch) bedeutet: Waren bei max. 32 Terminen bis 2019 knapp 63000 Karten im Umlauf (wenn auch nie im Verkauf), konnten es für die Saison 2021 bei 25 Terminen nur noch max. 22775 sein. Dennoch blieben Englisch, Französisch und Spanisch in den Pausengesprächen hörbar. Die Sitzreduzierung im Schachbrettmuster bei Verzicht auf mehr als die Hälfte der Plätze geschah nicht um den Preis der Provinzialität und war – so eng ist sonst bestuhlt – kaum wahrzunehmen. Die Welt und Bayreuth waren zum Stillstand gekommen, um desto schöner – mit Abstand, nicht eng umschlungen – ein Wiedersehen zu feiern. Klassentreffen einer sozio-kulturellen Klasse von Liebhabern. Wir leben noch.

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Barrie Koskys Meistersinger von 2017 (Bühnenbild: Rebecca Ringst, Kostüme: Klaus Bruns) sind als zwölfte Bayreuther Inszenierung allein verdienstvoll, weil sie die über Jahrzehnte laufenden Regiearbeiten der Wagner-Familie (zwei von Wieland 1956–60 sowie 1963–64, drei durch Wolfgang 1968–2002 sowie als elfte 2007–11 noch diejenige Katharinas) ablösten durch kritisches und zeitgemäßes Regietheater. Koskys Inszenierung bietet die bislang deutlichste Bayreuther Auseinandersetzung mit einem Thema, das bei Wagner so problematisch bleibt wie kein zweites, dem Antisemitismus. Wenn auch diffus, nicht immer ist alles so eindeutig wie am Ende des zweiten Aufzugs, wenn der mit einer grotesken Juden-Maske versehene Beckmesser von seinen Mitbürgern auch körperlich verletzt und die Prügelfuge zum Pogrom wird, wie es Adorno schon 1952 in seinem Versuch über Wagner ausspricht. Koskys Inszenierung, die letztmalig gezeigt wird, wurde in ihrer kurzen Laufzeit aktueller, dringlicher, akuter. Anschläge auf Synagogen, Angriffe auf jüdische Menschen oder Demonstrationen gegen Israel vor jüdischen Einrichtungen sind wieder zum deutschen Alltag geworden. Es wäre nicht abwegig, diese Inszenierung länger laufen zu lassen und ihre Behandlung und Deutung bereits in den Lehrplan für Schulklassen aufzunehmen. Bayreuth hat seine Entnazifizierung erfolgreich absolviert, nicht zuletzt durch Wieland Wagners purgierte Meistersinger-Fassungen oder die Museumsarbeit in Wahnfried; die deutsche Gesellschaft offensichtlich noch immer nicht.

Änderungen zur Einrichtung von 2017 gab es kaum, nur Kleinigkeiten (die Hunde kamen nicht mehr auf die Bühne, die Meister essen keine Lebkuchen aus der riesigen Schmidt-Schatulle, der Rasen im zweiten Aufzug fehlte), alles lief geschmeidig und zumindest technisch glatt: Der grosse Beckmesser-Gasballon mit rassistischer Stürmer-Karikatur blies sich perfekt auf, um am Ende des zweiten Aufzugs zum Nachtwächter-Ruf („bewahrt euch vor Gespenstern und Spuk, daß kein böser Geist eu’r Seel beruck!“) in sich zusammenzufallen und die Kippa mit Davidstern sichtbar zu machen. Dabei ist nicht eindeutig, was Beckmesser ist: eine Karikatur des Wiener Kritikers Eduard Hanslick (frühe Entwürfe benennen ihn „Hans Lick“ oder „Veit Hanslich“), eine des Dirigenten Hermann Levi, wie Kosky es nahelegt, oder ob es grundsätzlich um jüdische Ausschlussfiguren geht, wie sie Adorno im Versuch über Wagner bei diesem überall ausmacht: „Der Gold raffende, unsichtbar-anonyme, ausbeutende Alberich, der achselzuckende, geschwätzige, von Selbstlob und Tücke überfließende Mime, der impotente intellektuelle Kritiker Hanslick-Beckmesser, all die Zurückgewiesenen in Wagners Werk sind Judenkarikaturen.“ Es gibt freilich Äußerungen, die dies verkehren, Walther die innovative Rolle zuweisen, weil er als Vertreter einer welschen, überdeutschen, südlichen Kultur im Gegensatz zum deutschen Pedanten Beckmesser, der „den Deutschen in seinem wahren Wesen“ darstelle, konstruiert sei, wie Wagner 1873 erklärte.

Koskys Inszenierung ist nicht leicht verständlich, eingängig oder nur auf Antisemitismuskritik reduzierbar. Vieles ist ironisch, überdreht, lebenslustig. Freude, Spaß und Komik, durch die sich gerade die Meistersinger unter allen Wagner-Opern auszeichnen, werden nicht durchgehend ausgetrieben. Zugleich bleibt manches erratisch. Aus der Inszenierung alleine ergibt sich die Antisemitismuskritik nicht, dazu muss das Programmheft studiert werden, wo sich erschreckendes Material findet. Man sieht nur, was man weiß. Ausinszeniertes Vorspiel und erster Aufzug spielen im Wappensaal von Wahnfried, in den gewissermaßen vom Garten bzw. der Grabstätte aus hineingesehen wird, präzise datiert mit einer Projektion in Schreibmaschinenlettern auf den Zwischenvorhang: „Wahnfried. 13. August 1875. 12:45 Uhr.“ Wagner kommt vom Gassigehen mit seinen Hunden Molly und Marke zurück, Franz Liszt erscheint und umarmt seine Tochter Cosima, der jüdische Dirigent Hermann Levi, er dirigierte 1882 die Uraufführung des Parsifal, ist aus München angereist. Wir erhalten bei dieser Familienszene Einblicke in Wagners Vorlieben für Parfums und schöne Accessoires wie Stiefel oder Seidenstoffe, sehen ihm während der Fugen des Vorspiels mit seinem Schwiegervater beim vierhändigen Klavierspiel zu und erleben phantastische Vervielfachungen, wenn dem Flügel Kinder als kleine Wagner-Personifikationen mit Barett entsteigen, darunter bereits Walther von Stolzing und David, erkennbar als alter ego Wagners.

Beim Übergang zum ersten Aufzug bleiben die Anwesenden im Raum und wechseln in ihre Rollen, die Katharinenkirche befindet sich in Wahnfried, es gibt passend zum Eingangschoral eine Hausandacht und bereits einen Affront gegen den Rabbinersohn Levi, der sich nicht hinknien will und von Richard und Cosima Wagner dazu genötigt wird, gleichfalls die Hände zu falten, sich zu bekreuzigen und so bigott zu erscheinen wie die Gastgeber. Liszt wird zu Veit Pogner (Georg Zeppenfeld; diese Rolle war früher mit Günther Groissböck besetzt, der dieses Jahr nur den Nachtwächter aus dem off sang), Levi zu Sixtus Beckmesser (Johannes Martin Kränzle), Cosima zu Eva (Camilla Nylund), ein Zimmermädchen zu Magdalene (erstmals Christa Mayer). Wagner natürlich zu Hans Sachs (Michael Volle), doch auch Walther (Klaus Florian Vogt) und David (Daniel Behle) sind so kostümiert wie er, ikonische Personifikationen mit Hemd, Weste und Wagner-Barett, sie repräsentieren verschiedene Lebensalter und Charakterzüge des Meisters. Adorno schreibt im Versuch, die Meistersinger seien „das größte Zeugnis des Wagnerschen Bewußtseins von sich selber“; entsprechend biographisch informiert ist die kluge Deutung von Koskys Chefdramaturgen Ulrich Lenz, der Wagner als Schauspieler seiner eigenen Rollen und als jemanden einführt, der im engsten Kreis eigene Werke vorstellte und nicht nur intonierte, sondern stundenlang daraus deklamierte (für die Meistersinger sind solche Komplettlesungen mit allen Rollen mit verstellten Stimmen mehrfach überliefert). Dass Wagner zeitweise als „Sachs“ signierte oder Cosima mit „Eva“ titulierte, kommt hinzu. Am Ende des ersten Aufzugs wird die Familienszene (in die auch die Meistersinger und der Chor einbrechen) flugs nach hinten gezogen und sichtbar, dass sich Wahnfried immer im umfassenderen Rahmen eines holzgetäfelten Raumes befand.

Dass dieser den Gerichtssaal der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse darstellen soll, wird im zweiten und besonders dritten Aufzug deutlich (bei den Vorspielen wieder Projektionen auf den Zwischenvorhang, ein Ausschnitt aus Cosimas Tagebuch von 1870 sowie ein Verweis auf die schwerste Bombardierung Nürnbergs im Januar 1945 durch einen Bericht der Royal Air Force): Die präzisen Zeitangaben 1870/1875 werden ins 20. Jahrhundert überblendet, zugleich tragen etwa die Meistersinger Kostüme, die ins Nürnberg der Dürerzeit verweisen. Im zweiten Aufzug ist das Wahnfried-Mobiliar auf einen Haufen geräumt, wie es 1945 geschah, um es vor Luftangriffen zu schützen. Kenntlich wird der Gerichtssaal anhand der vier Alliiertenfahnen und durch einen Uniformierten mit weißem Helm, wie er der US-Wachmannschaft in Nürnberg angehört haben könnte. Die Festwiese weist bunte Fahnen auf, sie werden in für Kosky-Inszenierungen typischer Manier geschwenkt, große Gruppenchoreographien und Volksmengen sind eine seiner Spezialitäten, jedoch ist unklar, wie die Bezüge verlaufen, wer zu Gericht sitzt, wer sich wofür zu verantworten hat. Es gibt eine zentrale Normaluhr, ohne die Alliiertenfahnen und entsprechende Bestuhlung mit Richterpult könnte es sich um einen Wartesaal handeln. Die Gerichtszene wird durch eine Sachs-Äußerung legitimiert: „Ich bin verklagt, und muß bestehn“. Sachs richtet sich, selbst wenn er mit anderen kommuniziert, meist an das Publikum, das die Rolle von Richtern, Jury, Staatsanwaltschaft, Anwaltschaft zugleich übernimmt und sich ein Urteil zu bilden hat, nicht nur beim „Singgericht“ oder „Meistergericht“, auch bei der Frage moralischer Schuld. Sachs sieht nicht nur so aus, sondern ist in Koskys Inszenierung Wagner und muss sich verantworten: für seine Instrumentarisierung im Nationalsozialismus, die Rolle, die er etwa für Hitler oder Goebbels in deren Selbstinszenierungen spielte, auch für das bis heute bestehende Tabu, ihn in Israel aufzuführen. Verhandelt und gerichtet wird über Wagner und Bayreuth, und zwar vom Publikum. Zugleich widersteht Kosky naheliegenden Verlockungen; von den Uhrzeiten und Stürmer-Karikaturen abgesehen, bleibt der Nationalsozialismus nur uneindeutig präsent, es gibt keine Hakenkreuze oder rot-weiß-schwarze Farbgebung zur Unterlegung faschistischer Gewalt, wie sie etwa Visconti 1969 so drastisch in Die Verdammten (im Original La caduta degli dei) in Verbindung von nationalsozialistischer Bildästhetik mit Wagners Musik kurzschloss.

Den Schlussgesang („Verachtet mir die Meister nicht“) singt Sachs alleine auf einer nur ihn ausleuchtenden Kanzel, die als Zeugenstand, zugleich Anklagebank dient; alle anderen Figuren sind verschwunden, das Mobiliar ist weggeräumt, nur vereinzelt sind Papierblätter übrig. Er wirbt, gestikuliert, erklärt; alle Missverständnisse und Fehldeutungen sind mitgemeint: „Drum, denkt mit Dank Ihr d’ran zurück, wie kann die Kunst wohl unwert sein“. Es ist Sachs/Wagner alleingelassen im leeren Raum mit seinem riesigen Werk, auch mit seiner Rezeption, 145 Jahren Festspielgeschichte, ein Gänsehautmoment. Am Ende des dritten Aufzugs dann wieder eine Öffnung; zu sehen ist ein vom Chor gemimtes Orchester, das bei „Ehrt eure deutschen Meister“ auf einer Bühne langsam in den Raum bewegt wird, und dem die letzten Takte gelten. Sachs/Wagner dreht sich um und dirigiert es mit dem Rücken zum Publikum.

Sachs


Die Anklagebank ist zum Dirigentenpodest geworden. Mit dem Schlussakkord verschwindet das stumme Orchester hinter der Holzvertäfelung, der Meister bleibt allein mit erhobenen Armen zurück; es folgen begeisterter Schlussapplaus und frenetisches Trampeln. Zurecht, denn Michael Volle ist ohnehin der Über-Sachs (und ein überzeugend aussehender Wagner), Inkarnation des Wagnerschen Credos, das zur Rheingold-Uraufführung am 13. August 1876 in Form von Anschlagzetteln in den Kulissen und Garderoben des Festspielhauses Sängern und Darstellern als Devise vorgeschrieben wurde: „Letzte Bitte an meine lieben Getreuen! ! D e u t l i c h k e i t !“ Wie Volle alleine auf der leeren Bühne agiert, zum ersten Mal zum Ende des ersten oder im Fliedermonolog im zweiten Aufzug, wo das Orchester ungewöhnlich lange aussetzt und nur er alleine zu hören ist, etwa in den langen Partien der Schlussszene, demonstriert nicht nur, wie überragend er singen kann, sondern auch seine enorme Bühnenpräsenz. Volle ist definitiv wieder die beste Sachs-Besetzung, die es in Bayreuth auch 2021 geben kann.

Bestens besetzt aber sind auch die anderen Wagner-Personifikationen, Daniel Behle als David, der schon im ersten Aufzug einen grandiosen Auftritt hat. Er ist in seinem Vortrag dermaßen vorlaut und witzig auftrumpfend, dass der Gegensatz zwischen Lehrmeister und Lehrling auch glaubhaft wird. Bei einem so kraftstrotzenden Sänger wie Volle wäre er sonst kaum glaubhaft, Sachs ist ein gealterter Witwer, verzichtet auf Eva nicht nur wegen Walther, sondern wegen des Altersunterschieds (obschon dies in einer Besetzung mit Camilla Nylund nicht zum Tragen kommen kann). Klaus Florian Vogt als Walther von Stolzing leistet Großartiges, ist frisch, jugendlich, steht für die Innovationskraft seiner Rolle voll ein, stimmlich der ideale Partner der gut und jugendlich gesungenen Eva, die von Nylund allerdings nicht ideal verkörpert wird (Evchen ist keine alte Jungfer). Ohnehin ist Vogt derzeit der ideale Walther, eine der erfolgreichsten Rollenverkörperungen der letzten Jahre und in Bayreuth schon 2007–11 dabei, auch wenn er sich nicht darauf beschränkt (siehe den Münchner Castellucci-Tannhäuser). Sängerische Qualität, verstärkt durch die unvermindert sensationelle Akustik des Festspielhauses – so definiert Bayreuth wie früher Weltklassestandards, weil es noch immer die besten Stimmen zusammenbringt, die es für Wagner-Rollen gibt.

Held des Abends war aber kein Wagner-Tenor, sondern der dänische Bariton Bo Skovhus, der kurzfristig seinen ersten Bayreuth-Einsatz absolvierte, weil Johannes Martin Kränzle indisponiert war. Skovhus wurde so knapp eingeflogen, dass zu Beginn noch nicht einmal die Besetzungszettel gedruckt vorlagen und erst zur Pause erhältlich waren. Unbeschreiblich, wie er unvermutet den Beckmesser von der Seite einsang, wobei er sich von Aufzug zu Aufzug merklich steigerte. Der seit langem in Wien lebende Skovhus ist als Opernsänger (das Münchner Publikum konnte ihn 2019 in der Titelrolle von Kreneks Karl V. an der Staatsoper erleben) ein Gigant und sang den Beckmesser schon 2016 an der Bastille und in Budapest sowie 2013 in Hamburg und Chicago (daneben u.a. Wolfram im Tannhäuser 2008 in Barcelona, Kurwenal in Hamburg 2013 oder Amfortas in Berlin 2014). Doch sein Repertoire umfasst auch das Lied, mit Schwerpunkten auf Mahler und Zemlinksy. Skovhus ist ein Kavalierbariton, der die leisen Partien beherrscht und seit 1997 den Titel eines österreichischen Kammersängers trägt. Oft genug bedauert man sich als Zuhörer bei solchen Noteinsätzen wegen des Ausfalls eines mit Vorfreude erwarteten Stars und der selten befriedigenden Ersatzlösung; dass Volle und Kränzle als bestens aufeinander eingespieltes Bariton-Duo seit vielen Jahren zu den besten Sachs-/Beckmesser-Kombinationen zählen, zeigt das Niveau, auf dem sich Skovhus beweisen musste. Er meisterte bravourös die ungewöhnlich hohe und kreischende Stimmlage der Partie, die für manchen Sänger schwierig ist, wenn er auch oft zu schön sang und das enorme Spektrum, für das Kränzle bekannt ist, nicht ausmaß. Ärgerlich ist freilich, dass über diesen Einsatz nicht vorher informiert wurde; man erfuhr lediglich, die Besetzungszettel seien nicht fertig, es kam aber niemand vor den Vorhang, um die Änderung mitzuteilen. Das ist typisch Bayreuth und hat sich nicht gebessert; kommuniziert wird schriftlich, selbstherrlich, wie Wagner selbst es tat. Was immer sich ergibt, wird dem Publikum zugemutet: never complain, never explain. Das ist ärgerlich und unhöflich.

So verändert die Inszenierung sich zwangsläufig, wenn unvermutet jemand unkostümiert ein Notenpult hereinträgt, seine FFP2-Maske in der Hose verschwinden lässt und anschließend dem nur schauspielernden Beckmesser seine Stimme leiht; bei Kosky könnte das sogar dazugehören. Auch wird dadurch die zweitwichtigste Stimme der Besetzung, die nicht von einem Muttersprachler stammt, wiederum dem Außenseiter Beckmesser zugewiesen, der so ein weiteres Mal als Fremdkörper markiert wird. – Nylund, die Eva-Besetzung, kann hier beiseite gelassen werden; von allen Wagner-Opern sind die weiblichen Stimmen in den Meistersingern, der Sopran der gehorsamen Eva und der mit Mayer dieses Jahr neubesetzte Mezzo der nicht minder braven Magdalene, die allerunbedeutendsten; Frauen nur Trophäen, um die geworben und gesungen wird, als „Meisterpreis“, Töchter oder spätere Eheweiber und Mütter, Staffage. Quantitativ und qualitativ sind weibliche Stimmen nirgendwo bei Wagner so schmählich unterrepräsentiert wie in seiner einzigen Komödienoper. Selbst der Chor hat mehr zu bieten, das Quintett kann das so wenig ausgleichen wie die „O Sachs, mein Freund“-Arie Evas. Diese, oft nur Evchen genannt, erklärt folgerichtig: „Ein folgsam Kind, gefragt nur spricht’s.“ So sind die Meistersinger über weite Strecken ein Männergesangsverein, zugleich aber die einzige Wagner-Oper, in der ein Liebespaar ein Happy ending feiert, als echten Komödienschluss.

Die Konstruiertheit der Beckmesser-Figur wird durch die ersetzungsbedingte Doppelung mit Skovhus und Kränzle zusätzlich akzentuiert. Beckmesser kann nicht einfach nur als antisemitisches Hassobjekt gelten, sondern ihr wird alles aufgebürdet, was Wagner verachtete (am neutralsten noch 1851 als Exponent „der meistersingerlichen Spießbürgerschaft“ bezeichnet, „deren durchaus drolligem, tabulatur-poetischem Pedantismus ich in der Figur des ‚Merker’s‘ einen ganz persönlichen Ausdruck gab“). Kosky schreibt: „Beckmesser ist kein Jude. Er ist eine Frankenstein-Kreatur, zusammengeflickt aus allem, was Wagner hasste: Franzosen, Italiener, Kritiker, Juden. Was immer Wagners Abscheu auf sich zog, findet sich in Beckmesser wieder.“ Zugleich wird die Situation genial genutzt, wie es nur in einer Komödie denkbar ist, angelegt durch Koskys Rollendopplungen und -verwechslungen: Kränzle zeigt bei dem von Skovhus gesungenen „Am End denkt sie gar, daß ich das sei!“ auf seinen Einspringer, sprengt die Darstellung und tritt bewusst aus der Rolle, was Heiterkeit auslöst. Zudem wird die Künstlichkeit und Gemachtheit von Kunst, die in den Meistersingern stärker thematisiert wird als anderswo, gerade durch das Einsingen der Beckmesser-Stimme überdeutlich, somit noch stärker zur Diskussion gestellt, was Darstellung und Inszenierung auf der Bühne, was Spiel, was illusionsbrechende oder -erschaffende Funktionen sind. Die Illusion, das Bühnengeschehen als gänzlich präsentisch und immersiv wahrzunehmen, ist ohnehin nur kurzzeitig möglich. Im speziellen Fall der Beckmesser-Besetzung kommt durch den Einsatz von Skovhus aber hinzu, dass dieser zwar riesige, aber zugleich zarte und lyrische Sänger den Versehrungen des Bühnengeschehens, den Anfeindungen Beckmessers und auch der körperlichen Gewalt in der Prügelfuge, die Kosky drastisch zeichnet, entzogen wird. Kränzle wird zum Stuntman, der seinen Körper einsetzt, nicht aber seine Stimme, die, geschützt von der Seite kommend, noch unverletzt erklingen kann, wenn sich ein Haufen Nürnberger Bürger auf Beckmesser stürzt, ihn mit einer überdimensionierten Juden-Fratze herumtanzen und Spießruten laufen lassen, wenn er ausgestoßen wird. Das alles ist so weder von der Regie vorgegeben noch planbar, sondern folgt aus der Situation; und kann, gerade weil Kosky es so angelegt hat, als Auseinandersetzung mit seiner Inszenierung gelten.

Philippe Jordan dirigiert souverän und flüssig, bekommt die längste Oper des Repertoires in 4h15’ zügig zu einem sehr guten Ende (I 1h20’/II 58’/III 1h57’), wie er es schon seit der Premiere 2017 mehrmals tat. Trotzdem kommt es mitunter zu Momenten, in denen das Orchester zu leise zu vernehmen ist und an Präsenz verliert und die Stimmen überwiegen. Das verstärkt den Eindruck, dass die pandemiebedingte Pause Routinen aufgezehrt, ja fortgenommen hat. Doch im Zweifel ist dies besser, als wenn Stimmen untergehen oder gar unverständlich werden. Jordan wird – völlig ungerechtfertigt – am Ende ausgebuht. Eberhard Friedrich, seit 2013 Chordirektor der Staatsoper Hamburg, nicht, sondern mit Beifallsstürmen bedacht; sein Chor vollbringt etwas Erstaunliches, oder es ist doch modernste Wiedergabetechnik, die hier brilliert: Anders als bei der Dopplung/Ersetzung Kränzle/Skovhus war wegen des Hygienekonzepts von vorneherein geplant, nur einen halben Chor statistisch auf der Bühne spielen zu lassen, während der Gesang der anderen Hälfte von einer Probebühne einzeln aufgenommen übertragen und elektronisch verstärkt wiedergegeben wurde. Solche Zuspielungen (selbst ganzer Orchester) gab es seit Sommer 2020 im Opernbetrieb vielfach, meist waren sie defizitär. Hier aber funktionierte es ausnehmend gut, vielleicht konnte nur in der Polyphonie der Prügelfuge nicht durchgehend der Eindruck entstehen, der Gesang des Chors würde direkt auf der Bühne von den dort sichtbaren Personen stammen. Da Koskys Inszenierung am Ende ein Orchester aufweist, das nicht musiziert, passt ein Chor auf der Bühne, der nicht singt, dazu recht gut. Der damit verbundene Koordinationszwang, besonders den Dirigenten belastend, der nicht nur die Solisten, die er nicht sieht (und kaum hört), mit einem Chor, den er nie sehen kann und noch diffuser aus einem Nebenraum verstärkt hört, mit seinem Orchester zu koordinieren hat, erfordert, Jordans Leistung differenzierter zu betrachten, als dies einem Teil des Publikums möglich war.

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Die Tannhäuser-Wideraufnahme war mit enormen Vorschusslorbeeren versehen. Tobias Kratzers Regie, die Filmkunst von Manuel Braun, auch das Bühnenbild und die Kostüme von Rainer Sellmaier (die sich oft zu dritt präsentieren oder Interviews im Team gaben, auch zusammen mit dem Dramaturgen Konrad Kuhn), wurden in der Opernwelt zur „Aufführung des Jahres“ 2019, Kratzer zum „Regisseur des Jahres“ gewählt. Dabei hatte er nicht nur mit dem Tannhäuser Übung, den er schon 2011 in Bremen inszeniert hatte, sondern mit Meistersingern und Götterdämmerung in Karlsruhe 2014 und 2017 weitere Wagner-Opern eingerichtet (auch dafür wurde er ausgezeichnet, durch die Nominierung für den Deutschen Theaterpreis Der Faust durch den Deutschen Bühnenverein in der Kategorie „Regie Musiktheater“ 2015 sowie dessen Zuerkennung 2018). Kratzers erste Bayreuth-Verpflichtung mehrte den Ruhm des Regiestars im deutschsprachigen Raum um ein Vielfaches.

Die Inszenierung kann im Unterschied zur Premiere nun mit Ekaterina Gubanova als Venus erlebt werden; diese verletzte sich 2019 bei Proben und musste damals kurzfristig durch Elena Zhidkova ersetzt werden. Zugleich wurde eine Statistenrolle umbesetzt: Bei Kratzer kommt der Venusberg in Bewegung, Heinrich Tannhäuser (Stephen Gould) wird von der Liebesgöttin in einem Citroën-Kastenwagen durchs Wartburgtal und den Thüringer Wald chauffiert. Im Gefolge hat Venus keine Sirenen oder Bacchantinnen, sondern den schwarzen Dragkünstler Le Gateau Chocolat („I’m a black, bearded, plus-sized drag queen“) und einen aus Grass’ Blechtrommel bzw. der Schlöndorff-Verfilmung bekannten Oskar Matzerath mit Matrosenanzug und rot-weißer Blechtrommel, verkörpert durch den kleinwüchsigen Manni Laudenbach. Wegen der geltenden Reisebeschränkungen wollte Le Gateau Chocolat London nicht verlassen und musste durch den Tänzer Kyle Patrick ersetzt werden, was nicht nur den ersten und zweiten Akt, sondern auch die Pausenperformance betraf, die wieder im Park vor dem Festspielhaus aufgeführt wurde; die authentische Dragqueen war damit nicht selbst Teil der Bayreuth-Inszenierung, sondern wurde von einem Tänzer dargestellt, der sie spielte. Kratzer nannte das problematisch, auch durch den diesjährigen Ausschluss der Öffentlichkeit: „Etwas sehr Freies, Offenes wird nun gleichsam völlig von der Hochkultur vereinnahmt.“ Aber es war wohl eher die Pandemie, die hier Vorgaben machte.

Wagner schildert in seiner Autobiographie die Wartburg als utopischen, konfliktfreien Ort. Als er 1842 im Postwagen auf einer mehrtägigen beschwerlichen Reise „bei unausgesetztem Sturm, Schnee und Regen“ von Paris nach Dresden fuhr, um die neue Hofkapellmeisterstelle anzutreten, passierte er auch Eisenach. Die verabscheute Reisegesellschaft aus mitreisenden Händlern, Messebesuchern und jüdischen Kaufleuten, die Strapazen des Reisens durch das Wechseln übervoller Kutschen, das schlechte Wetter, alles, was ihm „zur vollständigen Marter“ wurde, war vergessen: „Einen wirklichen Lichtblick gewährte mir die Begegnung der Wartburg, an welcher wir in der einzigen sonnenhellen Stunde dieser Reise vorbeifuhren. Der Anblick des Bergschlosses […] regte mich ungemein warm an. Einen seitab von ihr gelegenen ferneren Bergrücken stempelte ich sogleich zum ‚Hörselberg‘ und konstruierte mir so, in dem Tal dahinfahrend, die Szene zum dritten Akte meines ‚Tannhäuser‘, wie ich sie seitdem als Bild in mir festhielt […] die so geschicht- und mythenreiche Wartburg […], und war von diesem Eindruck gegen Wind und Wetter, Juden und Leipziger Messe so innig erwärmt, daß ich endlich […] glücklich und wohlbehalten wieder in demselben Dresden ankam“. Deutsche Mythologie und reformatorisches Erbe als nationale Reinheitsphantasie und wärmende Komfortzone.

Nun ist Kratzers Venus keine Göttin Holda oder Frau Hulda, sondern eher eine russische Pussy-Riot-Aktivistin in schwarzem Glitzer-Jumpsuit und weinroten Doc Martens; ihre aus einem Zwerg im Ringelshirt mit Wagner-Barrett und einer Dragqueen in Tütü oder Tigerkostüm bestehende Entourage märchenhaft, aber weder bei Bechstein noch den Grimms zu finden. Auch der Tannhäuser sieht nicht aus, wie man sich deutsche Ex-Ritter vorstellt, sondern trägt rote Lockenperücke und Zylinder mit gelb-rot gestreiftem Mantel, ruft damit Assoziationen zwischen Ronald McDonald und Horrorclown hervor, ist auch entsprechend geschminkt. Venus bewohnt nicht mehr statisch den Hörselberg, sondern steuert ein Wohnmobil, keinen Hippie-Bulli, sondern eine type H Citroën-Camionnette. Auch das ist bewusst gewählt. So war die berühmteste Aktionskünstlerin der Welt, Marina Abramović, mit ihrem langjährigen Lebensgefährten und künstlerischen Partner Ulay (Frank Uwe Laysiepen) zwölf Jahre lang in einem solchen Fahrzeug unterwegs und benannte Performances und Kunstwerke danach (etwa The Citroën Van, Art Vital (Detour)). Die Verlockungen der Venus sind nicht mehr erotisch-sinnliche oder schlicht gegen eine christliche Sexualmoral gerichtete Hedonismen, sondern grundlegender anarchische und sozialrevolutionäre, aktionistisch, intellektuell und politisch aufgeladen.

Kratzer politisiert bzw. stellt Wagner, der nicht von ungefähr in Teilen Deutschlands jahrelang steckbrieflich gesucht wurde und sein Schweizer Asyl nicht aus Gründen der Steuerersparnis aufsuchte, als den politischen Revolutionär vor, der er eben auch war. Immer vor allen möglichen Anhängern des Privateigentums auf der Flucht: Schuldnern, Ehemännern, deren Gemahlinnen der notorisch untreue Schürzenjäger verführt hatte, betrogenen und enttäuschten Freunden und Vertrauten, auch dem Staat. Bevor die Freundschaft mit Ludwig II. ihn selbst zum königstreuen Staatskünstler und deutschen Nationalkomponisten machte und er als „Lolus“ verspottet wurde, verfasste Wagner Pamphlete, aus denen sich trefflich zitieren lässt. Die Venus-Gruppe tut es und plakatiert etwa in der Hörselberg-Szene einen Raststätten-Kiosk, der zugleich Märchenwald ist und die sieben Zwerge und Frau Holle als Staffage aufweist, verteilt Flugblätter oder bemalt Transparente: „FREI IM WOLLEN FREI IM THUN FREI IM GENIESSEN R.W.“. Wagner formulierte 1849 in Die Revolution auch „ich will zerbrechen die Gewalt der Mächtigen, des Gesetzes und des Eigentums“ und noch einiges mehr, was heutigen Wagnerianern wenig gefallen dürfte; im Programmheft findet es sich vermischt mit Einordnungen in politische Aktions- und Performancekunst von den 1960ern bis heute, wozu auch die Diskurse um Racial, Ethnic, Minority LGBTQ+ Rights zählen. Das zeigt Tannhäuser in anderem Licht: „Revolution ist die schönste Kunst“.

Dabei beginnt alles überaus konventionell: Das Vorspiel setzt ein, der lange geschlossene Vorhang hebt sich dann aber doch, eine Videoeinspielung zeigt den thüringischen Wald, die Wartburg, das fahrende Venus-Mobil. Deutschland, grün, schön, urtümlich. Erst später kommen Szenen hinzu, die erklären, warum Tannhäuser das freie Liebesleben mit Venus nicht länger fortsetzen will. In einem Fast Food Drive-through wird nicht bezahlt (bzw. nur symbolisch mit dem Wagner-Motto) und Treibstoff aus einem SUV gestohlen, vorsätzlich ein Polizist überfahren und Fahrerflucht begangen. Tannhäuser kommt ins Zweifeln, ob er sich noch auf dem richtigen revolutionären Weg befindet. Er bittet Venus, ihn ziehen zu lassen, sie weigert sich, er wirft sich bei voller Fahrt aus dem fahrenden Bus. Das ist zufällig da, von wo er vor sieben Jahren ausgezogen war, nur ist die Wartburg das Festspielhaus am Grünen Hügel. Hier hatte er einst den Tannhäuser gesungen und begegnet früheren Kollegen, die keine verkleideten Ritter sind, sondern mit Backstageausweisen versehene Bayreuth-Sänger, die Mittagspause machen; sowie Elisabeth (Lise Davidsen), die dem Treulosen erst einmal ins Gesicht schlägt. Es gibt weitere Überraschungen. Venus ist ihrem Geliebten gefolgt, der Citroën durchbricht eine Absperrung und befährt die Bühne, die Realität des queeren hedonistischen Anarchismus ist unvermittelt in die Idylle des Grünen Hügels eingebrochen.

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In der ersten Pause sind Venus, Oskar und Le Gateau Chocolat dann wie schon 2019 im Park des Festspielhauses anzutreffen, der zum Vergnügungspark und Pleasure Ground wird. Diesjährig allerdings darf zur Performance nicht jeder kommen, der Lust darauf hat. Ein Zaun mit Sichtschutz trennt das zahlende Festspielpublikum von der nichtprivilegierten Öffentlichkeit. „Frei im Wollen“ wird nicht zu „frei im Genießen“, durchgelassen wird wieder nur mit tagesaktuellem Einlassbändchen und Eintrittskarte, die Gästezahl ist auf 200 Personen beschränkt. Es vollzieht sich, mit Kyle Patrick als Le Gateau Chocolat und Ekaterina Gubanova als Venus, mehr oder weniger die Performance von 2019, mit neuer Hintergrundmusik: Jorge Bolets Tannhäuser-Vorspiel in der Liszt-Transkription, Armstrongs Zwergenmarsch („Heigh-Ho“) aus Disneys Schneewittchen und die sieben Zwerge, Schlager von Nana Mouskouri, zu denen Venus kräftig ins Mikrophon singt, ein „Tannhäuser/Derivè“ der schwedischen Hardcoreband Refused, chilenische Revolutionshymnen („El pueblo unido jamás será vencido“), „Venus is waiting“-easy listening. Igor Levit hätte das gut live einspielen können. Dazu trommelt Oskar auf einem Schlauchboot im Teich und plärrt Wagner-Zitate durchs Megaphon, Venus bepinselt ihr Transparent und reckt dem Publikum die Faust entgegen, Le Gateau Chocolat holt Bier, tanzt vor Aufblaseinhorn und Seifenblasenmaschine oder planscht auf einer muschelförmigen rosa Luftmatratze. Sehr spaßig, jedoch erwartbar, der Wow-Effekt von 2019 bleibt aus. „Frei im Thun“ wäre was anderes.


Während im Inneren des Festspielhauses der zweite Aufzug eingesetzt hat, versuchen Venus, Oskar und Le Gateau Chocolat es zu betreten, stehen aber – „Kein Einlass nach Beginn“ – vor verschlossenen Türen. Mit den auf Stehtischchen (die es diesjährig an dieser Stelle aber nicht geben darf) in der Pause übrig gebliebenen Champagnerresten lassen sie sich nicht abspeisen. Über den Balkon des Königsbaus erklettern sie die Spielstätte, hängen ihr Transparent auf und verschaffen sich Zugang zur Bühne, wo turbulent alles drunter und drüber geht und nach vielen Provokationen schließlich die Polizei gerufen wird, die ins Finale des zweiten Aufzugs platzt. Wie Bürger zur Exekutive stehen, ist heute problematischer als 2019; auch auf dem Grünen Hügel war deutlich mehr abgesperrt und mit Polizeipräsenz versehen als früher. Die Ereignisse werden, die Höhe der Bayreuther Bühne lässt es zu, gedoppelt; unten ist in einem Leuchtrahmen die Sängerhalle in Farbe zu sehen, oben genauso groß schwarzweiße Videoaufnahmen, die zeigen, was hinter der Szene geschieht. Venus etwa überwältigt backstage einen der Edelknaben und begibt sich so kostümiert in die Halle, wo sie Elisabeth anfeindet, bis Technik und Leitung intervenieren und die Staatsgewalt zu Hilfe rufen. Heinrich soll „nach Rom“, die Venus-Truppe aber wird nicht abgeführt, sondern verbleibt auf der Bühne, behält die Deutungshoheit. Bevor das Licht verlöscht, wird die Harfe, Begleitinstrument im Sängerwettstreit, mit einer Regenbogenfahne umhüllt. Das alles ist lustig, aber doch auf Kosten anderer Konfliktstellungen, die im Tannhäuser auch verhandelt werden, ethische, mythologische, nationale, religiöse, konfessionelle oder kulturtheoretische.

Der dritte Aufzug gehört zum Aufwühlendsten, was auf einer Opernbühne zu erleben ist, bei Kratzer noch intensiver: Das ramponierte Venusmobil ist nicht mehr fahrbereit, die Reise auf einem Schrottplatz zu Ende. Oskar erwärmt in seiner kaputten Trommel, die ihm als Topf dient, eine Konserve. Als sich die heruntergekommene Elisabeth hungrig nähert, gibt er ihr löffelweise zu essen, Wolfram kommt hinzu. Von der Utopie eines freien und selbstbestimmten Lebens ist wenig übriggeblieben, auch nichts von der Wartburg-Gesellschaft, die Elisabeth verlassen hat. Der aus Rom zurückkehrende Pilgerchor hat sich von festlich gewandeten Wagnerianern in zerlumpte Müllsammler verwandelt, die den Schrottplatz nach Verwertbarem durchsuchen. Heinrich fehlt. Als Wolfram sich dessen Mantel anzieht und die rote Clownsperücke aufsetzt, kann sich Elisabeth für ihn erwärmen und ermuntert den Ersatzlover zu schnellem Sex im Liebesmobil. Anschließend („Wie Todesahnung Dämmrung deckt die Lande“) schneidet sie sich die Pulsadern auf, wie sie es schon einmal tat, als Heinrich sie zum ersten Mal verließ, diesmal aber richtig. Der kommt von Rom zurück, trägt seine Habe in Plastiktüten mit sich herum und sieht entsprechend aus. Eine riesige Plakatwand (wieder wird die Höhe der Bayreuther Bühne eindrucksvoll genutzt) zeigt, dass Le Gateau Chocolat für Luxusuhren wirbt, ein weiterer Verrat an der Revolution. Venus taucht auf und erklettert die Plakatwand, um dort noch einmal die alten Parolen anzuschlagen und auf Heinrich einzuwirken. Er kehrt sich ihr zu, nachdem er die blutverschmierte Elisabeth umarmt und gebetet hat; es ist nicht eindeutig, ob er stirbt, der Chor singt vom Stabwunder, alles ist unwirklich. Auf der Plakatwand ist eine letzte Videoprojektion zu sehen, die Heinrich und Elisabeth im Citroën in der Abendsonne ins Licht davonfahren lässt, diesmal steuert er. Vielleicht eine Jenseitsreise, sicher keine Zukunftsvision, ein zu schönes Ende, unwirklich wie die zerplatzten Utopien der Revolution.

Lise Davidsen, die in dieser Rolle 2019 ihr Bayreuth-Debüt gab und 2021 auch als Sieglinde in der Walküre zu hören ist, sang Elisabeth makellos und klar, zugleich fragil, ihr gebührt erheblicher Anteil daran, dass der Umschwung in die Katastrophe so anrührt: Bei „Dich, teure Halle, grüss’ ich wieder“ ist sie fröhlich beschwingt, der Geliebte ist zurückgekehrt und alles wird gut ausgehen, beim „Er kehret nicht zurück!“ so illusionslos, dass man erschauert. Davidsen ist die beste Stimme dieser Produktion, rein, warm, intakt, dadurch auch so verletzlich, mütterlich, voller Hingabe. Ihr nimmt man ihre Verzweiflung und den Selbstmord ab, der wirklich bewegt. Ebenso trägt Wolfram (überzeugend: Markus Eiche) dazu bei, diese Inszenierung zu mehr zu machen als zu einer Ansammlung von Provokationen. „O du, mein holder Abendstern“ – seine Anrufung der Venus – gerät traurig und intim, bei bester Klarheit und Deutlichkeit. Zugleich wird diese Intensität konterkariert, entsagt der als Tannhäuser verkleidete untreue Freund ja gerade nicht der Versuchung, Elisabeths Abhängigkeit und Gebrochenheit für sich auszunutzen, wechselt also wie Heinrich die Seiten und die Frauen.

Im Unterschied zu diesen beiden kann der Tannhäuser weniger überzeugen. Gould ist groß und präsent, singt dann aber doch meist mit eingezogenen Schultern, schmettert weder die italienischen Schmachtpartien im Venusberg noch den späteren Heldentenor richtig heraus; er wird von Venus am goldenen Halsband herumgeführt, ein handlungsunfähiger Liebessklave. Nur in der Sängerhalle ist er voll da. Gould gibt den Tannhäuser tiefunglücklich und melancholisch und trägt damit zur Hoffnungslosigkeit bei, die sich durch die Inszenierung zieht, womit er als der große strahlende Tenor – Gould bestreitet dieses Jahr sowohl im Parsifal als auch in der Kindervorstellung des Tristan die Titelrollen – oft unhörbar bleibt. Er singt kraftvoll, bricht nie weg; zugleich, aber das mag an der elenden Kostümierung liegen, bleibt er ein verheulter Clown und depressiver Penner und wäre besser nie zurückgekehrt. Dann besser Wolfram, aber auch der kann Elisabeth nicht retten. Ekaterina Gubanova singt überzeugend, attraktiv, verführerisch. Jedoch: obschon sie alles richtig macht, steht die Zhidkova über ihr. Wer die Inszenierung schon 2019 kennenlernte, kann sich Venus nicht mehr anders vorstellen als mit ihr, zu eindrücklich waren besonders die schauspielerischen Leistungen. Günther Groissböck sang den Landgrafen Hermann erstmalig in dieser Inszenierung, tief und bewegend („Ein furchtbares Verbrechen ward begangen“), ein Routinier, der sein Bayreuth-Debüt 2011 in dieser Rolle gab. Älter und souveräner geworden, ist er mittlerweile noch besser in sie hineingewachsen, verkörpert Autorität und Macht.

Anders als zur Premierensaison 2019 mit Gergiev und Thielemann als Dirigenten, war Axel Kober, der Tannhäuser schon 2013 in Bayreuth geleitet hatte, mit dem Dirigat betraut. Er war bereits für 2020 vorgesehen gewesen und erfüllte seine Aufgabe sehr gut, dirigierte die Dresdner Fassung von 1845 mit flotten Tempi flüssig in 3 Stunden (I: 58’/II: 1h11’/III: 52’) und am besten im dritten Aufzug. Der Chor unter Eberhard Friedrich war trotz der Hygienevorgabe, ihn zur Hälfte stumm auf der Bühne zu zeigen und die andere Hälfte von einer Probebühne übertragen einsingen zu lassen, immer präsent. Das gelang bei den Pilgerchören allerdings besser als im zweiten Aufzug in der Sängerhalle. Anders als bei Gergiev 2019 wurde nicht gebuht (eine Spitze gegen diesen fand sich dennoch in einer neugedrehten Videoszene; beim Gang durchs Festspielhaus bleibt Le Gateau Chocolat nicht mehr bewundernd vor einem Thielemann-Porträt stehen, sondern verweilt vor einem abgehängten Gergiev-Poster, unter das „Ich komme etwas später“ geschrieben wurde). Dafür fehlte im Video die Gehässigkeit gegen die Vorgängerproduktion (Sebastian Baumgarten/Thomas Hengelbrock) von 2011, der Venus-Van passierte keine geschlossene Biogasanlage mehr, sondern eine Station, wo die Mitfahrenden „frisch (negativ) getestet“ ihre Testung erhielten; jedoch keine Einlassbändchen.

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Was also war besser? Es gab mehr Platz. Es war weniger heiß, dem verregneten Sommer sei Dank. Es war weniger laut, schnatterig, außen wie innen, was an den Masken liegen mag, vielleicht sind sie auch dazu gut. Es wurden keine Sitzkissen verliehen, offiziell auch keine erlaubt, es war sogar das „Fächern während der Aufführungen […] untersagt“. Folge war tiefe Konzentration, doch die gibt es in Bayreuth eigentlich immer. Es mag damit zusammenhängen, dass weniger Menschen in klimatisch weniger herausfordernden Situationen auf ihr Husten (das als möglicher COVID 19-Indikator ohnehin anders konnotiert ist als früher) oder andere Geräusche bereitwilliger verzichten. Wer sich im Pandemiesommer 2021 nach Bayreuth begibt, will nirgendwo anders sein als im Festspielhaus. Eine vergleichbar konzentrierte und gespannte Stille während der Darbietungen wird es im Rahmen musikalischer Aufführungen vielleicht so nie wieder geben. Sie war auch der Freude geschuldet war, dass es weitergeht. Wenn Sachs im dritten Aufzug, ganz ohne Orchesterbegleitung singt und dazu eine lange Pause entsteht, dann werden seine Stimme und die Stille so spürbar wie nie zuvor. Das verdankt sich auch einem Publikum, das maximal achtsam, beglückt und – wohl auch das einmal – dankbar ist.

Entsprechend gab es überbordende Reaktionen schon nach dem ersten Aufzug der Meistersinger und einen Zwischenvorhang, der klarstellte, dass auch das Publikum zurück ist. Wir sind wieder da. Wir alle. Dass es keine Garderobe gab, auch die Toiletten im Haus gesperrt waren, war lästig, viele schleppten wie Tannhäuser mehr mit sich herum als nötig, Regenmäntel und -schirme, Tüten, Kissen.

Neben der Gastronomie mit Tischreservierung wurden Food Trucks und temporäre Street-Food-Container auf die Bushaltestellen und vor das Festspielhaus gezwängt, um eine Fressmeile zu bilden (wie früher einstündige Pausen, sonst Picknick). Festivalcharakter: Neon-Bändchen, FFP2-Maskierung, Bier und Bratwurst, zum Rock mit Ring fehlte nur das Dixi-Klo. Immerhin gab’s Champagner, sogar flaschenweise. Zugleich ist es bewegend, seinen Kaffee aus einem Citroën-Van zu bekommen, der wie das Venus-Mobil aussieht, oder hinter sich die deutsche Staatsministerin für Kultur und Medien oder den australischen Meistersinger-Regisseur in der Warteschlange zu sehen, die auch für ihre Pastabox anstehen. Wagner hätte dieser Demokratisierungsschub gefallen, echte Volksfeststimmung. Der Kontrast zur Abendrobe, die auf den Rasenschutzplatten schleift, zum Stöckelschuh, der darin umknickt, konnte größer nicht sein.

Gut ist, dass der 2019 im Tannhäuser erstmalig umgesetzte Einfall, auch den Park des Grünen Hügels zu bespielen und für Inszenierungen zu nutzen, beibehalten und auf den „Ring 20.21“ ausgeweitet wurde. Das setzt schönes Wetter voraus, kommt aber utopischen Orten wie der Festwiese näher als jegliche Restricted-Access-Veranstaltung. Die fabelhafte Akustik, das Präsenz-Erlebnis des Schauspielhauses als Klangraum, wird auch in Zukunft nur wenigen Besuchern vorbehalten bleiben. Zumindest die späten Wagner-Opern klingen wohl nirgends besser oder einfach richtiger als am Ort, für den sie konzipiert wurden. Zugleich lässt sich die Konzentration und Atmosphäre der Festspielzeit nicht beliebig ausweiten. Das Haus selbst – die Kratzer-Inszenierung band erstmals den Backstagebereich ein und zeigte diesen zumindest per Videoprojektion – ist längst Teil der erweiterten Bühne, die Pausenzeichen vom Balkon der Mittelloge, statt Fanfaren heute Trompeten und Posaunen, zeigen es. Hier wäre mehr möglich. Die Ausweitung des Kunstraums auf den Park des Grünen Hügels und über die Wände des Festspielhauses hinaus gestalten die Grenzen zwischen Leben und Kunst durchgängiger. Solche Veranstaltungen sind pandemiekonform, ein Experimentierfeld für die kommende Zeit. Der „Ring 20.21“ wird damit mehr als nur pandemiebedingter Ersatz, sondern verweist auf die Zukunft. Stärker jedenfalls als die zwischen 2018 und 2011 durchgeführten Übertragungen auf den Volksfestplatz in Bayreuth, wozu jeweils etwa 20000 Personen kamen, wo man der Volksmenge nach draußen aber immer nur ein audiovisuelles Derivat zukommen lassen konnte.

Dabei war Bayreuth immer an der Spitze der Umsetzung technologischer Möglichkeiten, was Aufzeichnungen und Übertragungen angeht. 1931 wurde mit dem Tristan (Siegfried Wagner/Wilhelm Furtwängler) mit Übertragung an über 200 europäische, amerikanische und afrikanische Sender nicht nur die „erste Weltsendung in der Geschichte des Rundfunks“ realisiert, es werden bis heute vielfältige mediale Angebote ermöglicht: Liveübertragungen in Kinos, akustische und audiovisuelle Sendungen in Rundfunk, Fernsehen, Internet. Davon noch mehr wäre noch besser. Seit März 2020 ist die Frage, ob und wo man Premieren erlebt, zur Not eben auch zuhause, grundsätzlich anders zu beantworten als davor. In Richard Wagner und seine Medien analysieren Johanna Dombois und Richard Klein 2012 nicht nur die kulturtheoretischen und -politischen Zusammenhänge dieser Form von Musiktheater, sondern auch deren mediale Voraussetzungen einschließlich der architektonischen Besonderheiten der Spielstätte. Das verdeckte Orchester bedingt ein Illusionstheater auf Kosten der Musik, der Bühnenaufbau des Festspielhauses führt, in Wagners Worten, zu einem „Raume, der für nichts Anderes berechnet ist, als darin zu schauen“, zur Bühne als „Traumerscheinung“, während die „aus dem ‚mystischen Abgrund‘ geisterhaft erklingende Musik“ als romantischer Klangteppich und Begleitmusik ortlos wird. Der Bayreuther Orchestergraben mag ideal für Stimmen, die Guckkastenbühne passend für bestimmte Inszenierungen sein, nicht aber für analytisches Hören von Instrumentalmusik. Wagners Opernkonzept favorisiert weniger akustische als visuelle Information, es ging ihm um Illusion, Immersion, ästhetische Überwältigung. Der berühmte Bayreuther Mischklang mit dem nie direkt zu hörenden „verklärten Orchester“ ist Folge auch eines Primats des Theatralischen und des Bühnenspiels im Musiktheater um den Preis des Musikalischen.

Bedenkenswert ist, ob es wie bislang die riesigen Chöre braucht. In der Alten Musik zeigt sich langem, dass hervorragende Chorarbeit, wie sie Eberhard Friedrich hörbar leistet, Masse wettmachen kann, um den Zugewinn von Ausdruck und Beweglichkeit. Auch im Kopf. Die Pandemiesaison mit reduziertem Chor könnte als Chance gesehen werden. Bayreuth schleppt neben den überdimensionierten Chören auch mit der Orchestergröße, -instrumentierung und Instrumentenpositionierung Traditionen mit sich, die weder einer historisch informierten Aufführungspraxis gerecht werden noch innovativ sind bezüglich alternativer Aufstellungen, Stimmungen, Tempi. Die originalen Instrumente der Wagner-Zeit oder entsprechende Nachbauten werden ja nicht gespielt, Tempi, Dynamik und Phrasierungen nicht hinterfragt, die Stimmungen der Instrumente sind modern, als verbindlich gilt die Partitur im Erstdruck. Mit Ausnahme von Thomas Hengelbrock, der 2011 genau fünfmal den Tannhäuser dirigierte und hierauf verzweifelt das Weite suchte, und vielleicht noch Hartmut Haenchen, der 2016 beim Parsifal einsprang (und ihn 2017 aufgeteilt mit Marek Janowski dirigierte, der 2016–17 auch mit dem Ring betraut war), hat nie ein Vertreter (oder auch nur an ihr Interessierter) der historischen Aufführungspraxis im Bayreuther Graben dirigiert. Entsprechend viel musikalisches Potential wird dort durch die Fokussierung auf Inszenierung und solistische Stimmbesetzung auch verschenkt. Zugleich wird mit dem Kontinuitätsargument, dem Verweis auf die Einsetzung der Festspiele durch Wagner selbst und Rekurse darauf, was er geäußert oder gewünscht haben soll, fortwährend überspielt, wie tranig und öde viele Bayreuth-Produktionen über die Jahre hinweg waren, auf blinde Weise bewahrend, uninformiert, geschichtsvergessen, unzeitgemäß.

Wagnerianern wird (mitunter zurecht) nachgesagt, sie seien konservativ, fortschrittsskeptisch, an Routinen und Wiederholungen des Altbekannten mehr interessiert als an den Neuerungen, durch die sich speziell Wagners Kunst auszeichnet. Dabei sind sie geschult im Aufspüren von Minimaldifferenzen und allerkleinsten Nuancen. Auch weil immer gleiche Wiederholungen nicht möglich sind und die Differenz in der Wiederholung einen eigenen Reiz ausmacht, da selbst das Bekannte bei Wagner oft klingt, als höre man es zum ersten Mal. Durch jahre- und jahrzehntelange Befassung mit den immer gleichen Werken entsteht ein Kritikniveau, bei dem Kategorien wie Innovation vielleicht schon wieder unwichtig werden. So war an Bayreuth 2021 einiges besser als früher. Es wäre aber noch mehr zu erwarten, wenn man die Intelligenz und das Wissen, mit denen Kosky und Kratzer ihre Regiearbeiten versahen, auch der Musik und dem Orchester angedeihen ließe. Dann klänge neu, was so alt ist, und Bayreuth würde sich auch in den kommenden Jahren wunderbar wiederholen.


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Weitere Aufführungen in Bayreuth: Die Meistersinger von Nürnberg am 1., 8., 12., 17. und 24. August; Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg am 2., 5, 13., 16. und 23. August; zusätzlich wurden die besprochenen Aufführungen am 26. und 27. Juli von BR, NDR und RBB gesendet und sind in der BR-Mediathek (unter https://www.br-klassik.de/prog... und https://www.br-klassik.de/programm/radio/ausstrahlung-2518218.html) noch abrufbar. Am 31. Juli war im Rahmen des 3satFestspielsommers eine Aufzeichnung der Holländer-Premiere vom 25. Juli im Fernsehen zu sehen, die bis zum 31. August in der 3sat-Mediathek abrufbar bleibt, eine Radio-Übertragung fand zeitversetzt am 25. Juli statt und ist ebenfalls in der BR-Mediathek zu hören (https://www.br-klassik.de/programm/radio/ausstrahlung-2518110.html). Weiter folgt Bayreuth zusammen mit der Deutschen Grammophon (unter https://www.festspiele-online.de) einem Ziel Wagners, «alle Freunde seiner Kunst sollten freien Zugang zu den Aufführungen in Bayreuth haben», indem die Bayreuther Meistersinger-Premiere von 2017 sowie die Tannhäuser-Premiere von 2019 temporär gratis zugänglich sind (https://www.festspiele-online.de/programm/meistersinger bzw. https://www.festspiele-online.de/programm/tannhaeuser). Beide Premiereninszenierungen sind auch auf DVD/Blu-ray erhältlich (Deutsche Grammophon EAN 00440 073 54506/00440 073 54537 bzw. EAN 00440 073 57606/00440 073 57576).