Richard Wagners Ring des Nibelungen ist präsent wie selten zuvor. Kürzlich publizierte der Rundfunk Berlin-Brandenburg eine akustisch anspruchsvoll umgesetzte 16-teilige Hörspiel-Produktion (Regie: Regine Ahrem) mit Starbesetzung (Bibiana Beglau, Martina Gedeck u.a.), trotz Wagnerscher Leitmotivik in zeitgenössischem Deutsch. In Bayreuth wird der Ring durch Valentin Schwarz in diesem Sommer neu inszeniert werden, die Deutsche Oper Berlin startete ihren neuen Ring im Juni letzten Jahres (Regie: Stefan Herheim). Im November kam in Köln ein konzertantes Rheingold auf Originalinstrumenten im „Wagner-Lesarten“-Projekt unter Kent Nagano hinzu, im Dezember zog Bern nach (Regie: Ewelina Marciniak), allesamt Neuproduktionen, die sich mit Rheingold als „Vorabend“ oder „größeres Vorspiel“ neben Walküre, Siegfried und Götterdämmerung zum Ring des Nibelungen-Bühnenfestspiel verbinden. Nun also Zürich (Premiere 30. April 2022).
Zürich, das maximale Ring-Bezüge aufweist (Wagner lebte dort nach seiner Flucht von 1849 bis 1858 und schrieb am Zürisee zumindest den kompletten Ring-Text, den er 1853 im Hotel Baur au Lac erstmals öffentlich vortrug, auch die Musik zu Rheingold und Walküre) bekam seinen letzten Ring vor über 20 Jahren (2000–2002 unter Robert Wilson). Zugleich wird die bis Herbst 2023 vorliegende Produktion (Premiere Walküre September 2022, Siegfried März und Götterdämmerung November 2023) ein Vermächtnis des langjährigen Intendanten Andreas Homoki darstellen, der seit 2012 Intendant der Oper Zürich ist. Er hat sich ein Denkmal gesetzt.
Homoki versteht Das Rheingold als „Konversationsstück“ und „komödienhafte“ Abfolge „lebendiger und oft ausgesprochen witziger Dialoge“, beleuchtet weniger Mythisches oder Märchenhaftes, sondern Darstellungen von Genealogie und Familie Mitte des 19. Jahrhunderts; „die Familiengeschichte, die da erzählt wird, passt perfekt zu dieser Form“. Mit der Besonderheit, dass auch Wagners notorische Geldnot, Prunk- und Verschwendungssucht, eheliche Untreue und sein Undank gegenüber Gönnern und Wohltätern auf Wotan als „Familienoberhaupt“ gewendet werden.
Diese Herauskehrung des 19. Jahrhunderts ist keine musikalische, akustische oder sprechtheoretische; auch wenn Betonung und Deutlichkeit überragend ausfallen (am besten in Christopher Purves’ Alberich-Verkörperung); es ist keine historisch orientierte Rheingold-Aufführung im Sinne des „Lesarten“-Projekts. Vielmehr wird die Musik zugunsten des Schauspiels zurückgestellt. Es gibt kein Bühnenbild mit Göttern und Fabelwesen, keine Götter, Riesen, Wasserwesen oder Zwerge, sondern ein rein-weißes Interieur, wo sich versprengt Mobiliar, Requisiten und zeitgenössische, dem Bürgertum Mitte 19. Jahrhunderts zugehörige Figuren wie Farbtupfer einfinden.
Die Parallelisierung Wotans mit Richard (entsprechend Frickas mit Minna?) Wagner wird nicht übertrieben, dieser trägt kein Barett oder entsprechenden Bart, gleichwohl den samtenen Hausrock, in dem auch Wagner zu komponieren pflegte. Bühne und Ausstattung von Christian Schmidt sind aus einem Guss, edel, prächtig, spiegeln Wagners neben seinen Schwächen für fremde Ehefrauen oder Vermögen im Programmheft beleuchtete Vorlieben für kostbare Stoffe, Einrichtungsgegenstände und Speisen, was durch eine kalte und selten warme Lichtanteile aufweisende Beleuchtung (Franck Evin) verstärkt wird. Die Stimmung in diesem Zürcher Rheingold ist kühl, feindselig zwischen den Figuren, zugleich oft komisch.
Das auffälligste Bühnenmerkmal ist ein fast kontinuierlicher Drehbühneneinsatz, woran man sich gewöhnen muss, was aber Sog- und Suchtpotential entwickelt. Es dreht sich im Rheingold alles, wird verkehrt, Schwindel und Taumel folgen. „Auf dem Grunde des Rheines“ dreht sich die Bühne bis „Lugt Schwestern! Die Weckerin lacht in den Grund“ und dem Aufstrahlen der Sonne im Uhrzeigersinn und steht dann still, nimmt die Bewegung im zweiten Bild in Gegenrichtung auf; um schließlich in der letzten Szene nach unzähligen Umdrehungen beim Einzug über die Regenbogenbrücke nach „Abendlich strahlt der Sonne Auge“ stillzustehen und breit aufzugehen: Die Darsteller verharren, bleiben starr wie in einem Tableau vivant an einer Tafel, die selbst an Putins Kreml-Tische gewöhnte Zeitgenossen längenmäßig beeindruckt.
Bis dahin bestand die Dreh-Bühne aus drei Kreisdritteln, die ein prächtiges Weiß zeigten, schließlich aus einer die totale Bühnenbreite ausfüllenden Komplettbühne. Statt so zu enden, ist kurz vor Schluss Loge zu sehen, als würde ein Blick auf die Rückseite Wolkenheims ermöglicht; als Unheil verheißendes Springteufelchen, zuvor prophezeihend: „Ihrem Ende eilen sie zu, die so stark in Bestehen sich wähnen.“ Dieser bezugsfertige Ring-Neubau mit spektakulärer Bühne sowie seiner in Aussicht stehenden Zerstörung macht Lust auf die folgenden Ring-Teile.
Homoki ist die Routine in Zusammenarbeit mit Schmidt vorteilhaft; er lässt seine Darsteller spielen, als gäben sie ein Schauspiel. Nie steht jemand unbeteiligt herum oder liefert nur die Stimmpartie, sondern spielt seine Rolle, geht zumindest optisch darin perfekt auf; zugleich ist die historistisch interessante Rahmung, alles vor weißem Kassetteninterieur zu zeigen wie im klassizistischen Neubau, ein Illusionsbrecher. Es gibt weniger als erwartbar zu sehen, im Wissen, dass trotz der durch die Drehbühne rasanten Bewegung alles mehrfach gebrochen ist. Keine Videoprojektion, keine Prospekte, Wolkenheim wird nur als goldgerahmtes Gemälde vorgezeigt, Nibelheims Requisiten sind schwarz wie Alberichs Zwergenvolk.
Illusionistische Verblendung wird unmöglich, wir sehen ein Schauspiel, das ausstellt, nichts anderes als ein Schauspiel zu sein. Überblendet wird der Produktionszusammenhang mit Wagner in Zürich inklusive Geldnot, Geltungssucht, Triebhaftigkeit. Allein, Wotan hat seinen Speer dabei, den er wie einen Fremdkörper mit sich herumträgt, Gehstock oder gar Taktstock wären passender. Der Speer bleibt Requisite wie Drache oder Kröte, in die sich Alberich verwandelt – weitere Bühnenrahmung auf der Bühne, ein Wandschrank ohne Rückwand öffnet sich magisch und hält Theaterillusionen bereit – aus Pappmaché gefertigt im Bühnennebel oder am Schnürl hopsender Gummifrosch; Loge entfacht hübsche Theaterfeuer.
Das alles ist schön anzusehen, wird zugleich mit dem Verweis auf das Unechte, den Tand, relativiert. Dieses Rheingold ist ein Schauspiel, das nichts vorstellen will als – Schauspiel. Zugleich schafft es Großes: Unabhängig von möglichen mythologischen, kapitalismus- oder gesellschaftskritischen Tendenzen das Spiel der Sprache und den Sog des Theaterhaften spielerisch vorzuführen.
Was das Musikalische angeht, gelingt das meiste gut, Fehlbesetzungen gibt es nicht und auch sonst wenig zu kritisieren. Dirigent Gianandrea Noseda spricht bezüglich der Akustik des wenige Meter vom Zürisee entfernt gelegenen Hauses von einer Schaufensterbühne, wo er sich – anders als an größeren Häusern wie Met oder Scala – mit seiner Philharmonia Zürich zu zeigen habe: „Man muss bei jedem Repertoire auf die Akustik eines Theaters oder eines Konzertsaals reagieren. In diesem Opernhaus, das ich ein ‚Boutique-Theater‘ nenne, muss einfach jede Musikerin und jeder Musiker etwas disziplinierter spielen, auch ich als Dirigent muss mich zurücknehmen und die Dynamik an den akustischen Gegebenheiten ausrichten; abgesehen davon hat ein Forte in den Streichern nie die gleiche Bedeutung wie ein Forte in den Trompeten. Ich glaube, wir können uns problemlos der Akustik des Zürcher Opernhauses anpassen.“
Das gelingt, die Instrumente sind gut zu orten, etwas grell tönen mitunter die Bläser, besonders Posaunen und Trompeten, natürlich die Wagnertube. Definitiv kein Bayreuther Mischklang (der außerhalb des Festspielhauses kaum reproduziert werden kann), kein historisch informiertes Musizieren und zugleich ansprechend, klar, strahlend. Das Orchester übertönt die Singenden nicht oder stellt sich nicht gegen sie, harmoniert mit ihnen. Die anspruchsvolle Rheingold-Dynamik bleibt gewahrt, feine Nuancen bleiben erhalten, auch die großen Bögen in Wagners Musik, die auf den Gesamt-Ring verweisen.
Star des Abends ist Loge, von Matthias Klink nicht nur überragend gesungen, sondern auch exzellent gespielt. Ein quirliger Trickster im feuerroten Samtwams, an Johny Depp in Pirates of the Caribbean als Freibeuter Captain Jack Sparrow erinnernd. Star sollte als Wotan Tomasz Konieczny sein, der Einsätze wie „Vollendet das ewige Werk“ in brachialer Lautstärke intensiver als erwartungsgemäß herausschmettert, jedoch im Unterschied zu seinen Mitstreitern kein unidiomatisches Deutsch singen sollte. An Koniecznys Aussprache hapert es oftmals, so großartig seine Stimme auch sein mag.
Alberich hingegen, den Wagner als antisemitische Karikatur anlegte und wo entsprechend eine lange Aufführungstradition des Defizitären, Fehlerhaften und Missratenen vorherrscht, wird von Christopher Purves perfekt gesungen und als ebenbürtiger Gegenspieler Wotans spürbar. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke gibt einen intellektuellen Tüftel-Mime, der unter seinem Bruder leidet, auf hohem Gesangs-Niveau; seine Unterwerfung nimmt man ihm kaum ab, er harmoniert gut mit Purves.
Jordan Shanahan (Donner) und Omer Kobiljak (Froh) bilden gleichfalls ein gutes Brüderpaar, die verlässlich ihre Schwester in Schutz nehmen; eindrucksvoll ist, was das andere Brüderpaar angeht, besonders David Soar als Fasolt. Oleg Davydov fällt als Fafner tief und erschreckend aus, wenn auch der Brudermord slapstickhaft daherkommt (Kunststoffgold ist ungeeignet zum Erschlagen). Fricka (Patricia Bardon) und Freia (Kiandra Howarth) machen es als Schwesternpaar ebenfalls sehr gut, gleichenfalls Anna Danik als Erda. Interessant ist deren Kostümierung, nimmt sie doch Elemente der Rheintöchter (Woglinde Uliana Alexyuk, Wellgunde Niamh O’Sullivan, Flosshilde Siena Licht Miller) auf, die allesamt im weißen Seidenpyama mit Weiß-Haar unsinnlich und körperlos wirken; Erda trägt zusätzlich Augenbinde.
Zürich hat somit nach über 20 Jahren einen Ring-Bau begonnen, der sich sehen lassen kann. Das zeigen die Reaktionen des frenetisch applaudierenden Publikums. Auf die drei ausstehenden Teile des Bühnenfestspiels 2022/23 kann man sich freuen.