Wagners „Rheingold“ in Bern
In Bern beginnt mit dem „Rheingold“ ein neuer „Ring“
Bern, 21. Dezember 2021, Bernhard Metz

Seit Sommer ist Das Rheingold überpräsent; die Deutsche Oper Berlin brachte pandemiebedingt auf den 12. Juni verschoben ihre Neuinszenierung zum Auftakt eines neuen Rings in Stefan Herheims Regie auf die Bühne; Bayreuth hätte 2020 einen neuen Ring bekommen sollen und musste auf 2022 verschieben, Rheingold gab es im sommerlichen Festspielhaus-Park als anspielungsreiches Puppenspiel; Kent Nagano stellte am 18. November in Köln seine historisch informierte Rheingold-Interpretation konzertant auf Originalinstrumenten vor, der im „Wagner-Lesarten“-Projekt langjährige Forschungsarbeiten u.a. zu historischer Aufstellung, Aussprache und Stimmung vorangingen; schließlich brachten zum Jahresende (Premiere 12. Dezember) die Bühnen Bern ihr Rheingold in der Regie Ewelina Marciniaks heraus, erstmals überhaupt. Wobei es wenige zwingendere Aufführungsorte dafür geben kann als die Aarestadt Bern.

Kein Großepos ohne Flusslauf und Ur-Strom, wenig ist stabiler als Verankerungen von Kulturen mit Wasserläufen und -strömen. Selbst Joyce ließ seinen radikalsten, unerreicht modernen Wake-Roman mit „riverrun, past Eve and Adam’s, from swerve of shore to bend of bay“ einsetzen. Keine Ursprungsmythe, keine Ur-Saga ohne Fluss- oder Wasserbezug. Wagner charakterisierte die 136 Takte umfassende Es-Dur-Eingangssequenz seines 1869 in München uraufgeführten Wasserspiels, das er als „größeres Vorspiel“ und „Vorabend“ zum Ring des Nibelungen-Bühnenfestspiels verstand, „es sei gleichsam das Wiegenlied der Welt“. Die ersten öffentlich hörbaren Töne im neuerbauten Bayreuther Festspielhaus bestanden 1876 aus diesem fließend-repetitiven Urton. Konsequent beginnt das Programmheft zur Berner Erstinszenierung des großen Ring-Baus mit Partiturreproduktionen samt Bühnenanweisung: „In der Tiefe des Rheines“. Dabei entstand Das Rhengold in der Schweiz, Wagner war auch von Alpen und Alpenglühen in seiner Schweizer Zeit tief beeindruckt.

Dass sich in Bern nie zuvor jemand an den Ring wagte, hat vielerlei Gründe: Zu mickrig und bühnentechnisch unterentwickelt die Spielstätte, zu gering das Ensemble, zu groß der Aufwand für ein solches Haus, vielleicht zu nordisch-deutsch das Thema, sicher zu klein der Graben, um die erforderliche Menge an Instrumenten nebst Musikern unterzubringen, immer mussten die Proszenienlogen mitbelegt werden. Um sich auf eine Ring-Produktion einzulassen, sind Mut, ja Verwegenheit nötig. Wobei Tristan als letzte Berner Wagner-Oper unter Venzago 2019 aufgeführt wurde, während Parsifal 2021 abgesagt werden musste. Bern war nie dezidierte Wagner-Spielstätte, obschon 1903 die Eröffnung des Stadttheaters mit Tannhäuser begangen wurde.

Hölderlin sinnierte über den „edelsten der Ströme“, den „freigeborenen“ Rhein: „Ein Rätsel ist Reinentsprungenes. Auch/ Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn/ Wie du anfingst, wirst du bleiben“. Der deutscheste aller Flüsse hat sein Quellgebiet in der Schweiz, aber entspringt, geht man davon aus, dass die wasserreicheren Hauptflüsse ihre Namen weitergeben, in den Berner Alpen den Aaregletschern im Berner Oberland: im Aargau mündet die Aare, wasserreicher als der Rhein, in diesen ein und verliert ihre Bezeichnung; hydrologisch betrachtet müsste der Rhein als Nebenfluss der Aare deren Namen tragen. Was für Rheingold interessante Bezüge ergibt: Wird doch Hölderlins „göttlichgebaute,/ Die Burg der Himmlischen“ mit „heiligen Alpen“ und „Alpengebirg“ assoziiert – im Rheingold-Libretto „Freie Gegend auf Bergeshöhen“ für Walhall. Nicht immer mit nordischer Mythologie kurzschließen oder ins Rheintal verlegen, auf ins Berner Oberland? Dazu laden die vielfältigen Aktualisierungen ein, die in Marciniaks Inszenierung sichtbar werden.

Der polnischen Theaterregisseurin, letztjährige Faust-Preisträgerin für ihre Hamburger Boxer-Inszenierung und neuer Regie-Star, gelingt ihre erste Musiktheaterarbeit auf eine gnadenlos effiziente und ökonomische Weise. Bühnenbild und Ausstattung (Mirek Kaczmarek) sind einfach und für niemanden ruinös, die sportliche Alltagskleidung im bequemen Corona-Look (Kostüme Julia Kornacka) ebensowenig. Die Darsteller sehen darin aus wie während der Probe. Die intelligente Lichtführung (Bernhard Bieri) führt trotz geringen Materialaufwands bei meist leerer Bühne (Kunststoffbahnen wie Duschvorhänge von oben, die vierte Szene enthält hinten eine golden schimmernde geknautschte Metallfolie) zu prächtigen Ergebnissen, schwelgt in Glanz und Glamour. Zugleich gibt es ironische Störungen und Illusionsbrechungen; so wird das aus Pappmaché verfertigte Rheingold von Bühnenarbeitern während des Umbaus in Plastikkisten weggeschafft, worauf „Dekor“ steht.

Freia (Evgenia Grekova) schlurft in Adidas-Trainingshose und -Schuhen mit Samt-Hoodie und grünen Haaren locker herum, was sich beim Abtransport („fröhlich nicht hängt Freia den Rauhen über dem Rücken“) durch Fafner (Matheus França) und Fasolt (Christian Valle) als praktisch erweist. Diese wiederum kommen in Bomberjacke und Streetwear wie Straßenschläger an, haben von einer Tänzer-Gang in Camouflage-Look begleitet nicht nur beim beinharten „Sanft schloß Schlaf dein Aug’“-Auftritt mehr Street Credibility als üblich, sondern werden als kettenbehangene tätowierte Schläger aus dem Türsteher- oder Zuhältermilieu gezeigt. Damit endet der White Trash-Dresscode freilich schon wieder.

Was im Ring mitunter zu Mythenfolklore und Märchenkitsch verkommt, Götter und Nixen, Riesen und Zwerge, holt Marciniak in eine beängstigend nahe Alltagswelt, ohne dabei etwas herabzuwürdigen oder lächerlich zu machen. Es geht um soziale Gerechtigkeit und Schichtenzugehörigkeiten, Vertrauen und Glaubwürdigkeit, wenn die Herrschenden sich nicht an Verträge und Versprechungen halten wollen oder Arbeitskraft und -Leistung nicht entlohnt werden. Alberich (Robin Adams) ist im Urban Military Look ein proletarischer Kämpfer, Mime (Michał Prószyński) und die anderen Nibelungen (als Tanzende und Statisten Timo Andenmatten, Wendy Johana Pino Beleño, Sina Friedli, Luigi Imperato, Defne Karademir, Sheang-Li Pung, Ilaria Rabagliati und Zoe Serafina Wiedmer) tragen Bürokleidung, wobei sogar die Männer Bleistiftröcke und Blusen anhaben. Working Class und rhythmisierte White Collar-Officewelt statt Schmiededreck in schmutziger Erdhöhle.

Die Rheintöchter (Giada Borrelli, Evgenia Asanova, Sarah Mehnert) stecken wenig überraschend in weißen peplosartigen Kleidern, werden aber auch durch zusätzliche Tänzerinnen gedoppelt und als Gruppe dadurch beweglich und agil. Die Choreographie (Dominika Knapik) oszilliert zwischen repetitiven Mustern und tänzerisch wogenden Abläufen, passt aber meist gut und fügt eine Tiefendimension hinzu, die verhindert, dass die Solisten nur starr ihre Partien absingen.

Die von Claude Eichenberger würdevoll verkörperte Fricka kommt grandedamehaft als Oberschichtenrepräsentantin in blauem Kostümchen daher, was sie fürs Berner Publikum (die Mezzosopranistin ist für alles, was sie singen kann, wenn es ihr nicht zu hoch angesetzt ist, immer eine gute Besetzung und derzeit dienstältestes Mitglied des Berner Ensembles) ohnehin ist. Zum Glück ist sie disponiert, zur Premiere konnte sie nicht auftreten. Wotan (Josef Wagner) hingegen ist ein unterm Pantoffel stehender Schluffi, mit offenem Zweireiher zu heller Hose, bieder und zugleich schlampig mit langen nach hinten gegelten Haaren, dicker Brille und weißem Hemd.

Die großen (aber kleiner gewachsenen als der Loge verkörpernde Marco Jentzsch) França und Valle als Fafner und Fasolt werden so geschickt auf der Bühne positioniert, dass sie riesenhafter wirken als ihre Mitspieler. Normalgroße Darsteller wie Adams oder Grekova hingegen wirken als Alberich und Freia kleiner, als sie wirklich sind. Durch die Tanzszenen und Verdopplungen einiger Figuren wird das Altern der Götter durch vergreiste Doppelgänger verdeutlicht. Auch die Verwandlung Alberichs in einen Schlangen-Wurm wird durch eine schwarzgewandete Tänzerin gelöst, die sich dem überraschten Loge verführerisch auf den Schoß schwingt.

Dies alles ist klug und effizient inszeniert, nie anbiedernd. Marcianiak gelingt eine überzeugende Annäherung, sie opfert nie die tragische Tiefe und gewaltsame, ernst-katastrophische Ausrichtung. Stattdessen zeigt sie, was gute Figurenregie und schlanke Ausstattung leisten können. So ist neben dem optischen Glänzen und Gleisen viel direkte Körperlichkeit auffällig; Alberich schleppt in der ersten Szene, als würde er aus einer Schlacht kommen, mit blutverschmiertem Gesicht und zerrissener Kampfmontur, auf seinen Schultern einen Körper mit, lässt sein Kriegssouvenir zu Boden plumpsen; Freia wird weggetragen, es herrschen Körperkontakt und direkte Nähe vor, auch durch die Figurendopplungen.

Musikalisch gibt es keine Fehlbesetzung und kaum etwas zu kritisieren, es ist erstaunlich, auf welchem Niveau bei vielen Rollendebuts gesungen bzw. gespielt, getanzt und musiziert wird. Dass Nicholaus Carter, der neue Chef-Dirigent des Berner Symphonieorchesters und Co-Leiter des Opernbetriebs, nie zuvor eine Wagner-Oper dirigiert haben will, glaubt niemand; so klug und überlegt gelingt ihm alles. Eindrucksvolle Dynamik, nie wird es zu laut oder die Sänger übertönt; feinste Nuancen und Phrasierungen bleiben hörbar. Zugleich geht der gewaltige Sog von Wagners Musik nicht verloren.

Der brasilianische Bass França bringt als Fafner nicht alles in korrekter Aussprache (in Naganos „Wagner-Lesarten“-Projekt wäre er kaum besetzt worden); aber das macht ihn als Streetfighter mit Sonnenbrille, Gesichtstätowierungen und Migrationshintergrund umso glaubwürdiger und gefährlicher. Wenn er seinen Bruder umbringt und den Hort an sich reißt, wird der einzige, der statt auf Gold auf Liebe setzte und statt Geld das Leben wählte, der von Valle zärtlich verliebt gesungene Fasolt, brutalst aus dem Handlungsverlauf gerissen. Die Gang-Mitglieder (dargestellt von Andenmatten und Pung) bespringen ihn wie Hyänen und weiden ihr Opfer aus; grausame und furchterregende Bilder, jedoch nie effekthaschend und plump, dem drastischen Geschehen angemessen.

Donner (Gerardo Garciacano) und Froh (Filipe Manu) singen nicht auf dem hohen Niveau, wie es der grandiose Jentzsch als Loge abliefert. Der singt durchtrieben, listig, übertrumpft selbst den geschmeidigen und souveränen Wotan („Vollendet das ewige Werk“ etwa bringt Wagner majestätisch und prachtvoll) im direkten Vergleich in der Konfrontation mit Alberich. Dieser, von Robin Adams vielschichtig und variantenreich gesungen, ist die große Entdeckung dieses Abends. Alberich wird zum Akteur, der sich nicht nur giftig und böse, sondern auch tieftragisch artikuliert; er fällt Entscheidungen, von denen alles abhängt, enttäuscht von der Liebe, reißt er alle anderen mit hinab, Fluch und Rachebedürfnis sind stärker. Nicht nur als Herrscher, selbst als flehender Gefangener überwältigt Adams.

Prószyński singt den ängstlichen Mime gleichfalls gut, ebenfalls Veronika Dünser ihre Erda-Partie; bei den Rheintöchtern sticht besonders Asanova als Wellgunde hervor. Weil Eichenberger zur Premiere nicht singen konnte und erst zur zweiten Aufführung zu erleben war, wird man diese Inszenierung mehrmals besuchen müssen; zugleich macht die Freia-Wechselbesetzung mit Masabane Cecilia Rangwanasha neben der Grekova es ohnehin nötig, dieses Berner Rheingold mindestens zweimal anzuhören. Mindestens. Leichtigkeit; Kürze und Komik, ohne komödiantisch abzuschmieren, sind Kennzeichen dieser Inszenierung, wobei die Abfolge von Gier, Gewalt und Tod von Marciniak in beunruhigenden Bildern eingefangen wird.

Man kann ein schlankes, sportliches Rheingold inszenieren, ohne sich dafür zu ruinieren; und zugleich mit den geringen Mitteln, die ein mittleres Haus bereithält, prunken und protzen. In dieser Berner Inszenierung wird alles, was gelingen kann, erstaunlich gut und richtig gemacht. Was schiefgehen und ins Ungleichgewicht verrutschen könnte, wird hingegen vermieden. Humor, Pathos, tragische Größe und viel Tempo ohne Peinlichkeiten schaffen eine Vieldimensionalität, die nicht im Beliebigen verläppert, sondern wichtige Aspekte herauspräpariert. Das Ensemble der Berner Oper schultert mit wenigen zusätzlichen Solisten die Gesangspartien bravourös. Dass sich Marciniak in ihrer allerersten Opernregie und Carter bei seinem ersten Ring-Dirigat so gut schlagen, ist bewundernswert, bleibt rätselhaft. Wenn Hölderlin mit „Ein Rätsel ist Reinentsprungenes. […] Wie du anfingst, wirst du bleiben“ Recht haben sollte, steht Bern bis 2025 ein funkelnd-strahlender Ring bevor.