Am 25. Juni dieses Jahres kam es in der Würzburger Innenstadt zu einer Messerstecherei, bei der ein Mann drei Frauen erstach und neun weitere Personen verletzte. Der Attentäter, der aus Somalia stammende Abdirahman A.J., wurde aus der Untersuchungshaft vorübergehend in ein psychiatrisches Krankenhaus überführt und für „möglicherweise schuldunfähig“ erklärt.
Aber was bedeutet das eigentlich: schuldunfähig? Wann ist ein Mensch nicht mehr für sein eigenes Handeln verantwortlich? Und wie müssen die äußeren Umstände beschaffen sein, damit ein Mörder für seine Tat nicht mehr zur Rechenschaft gezogen wird?
Nach dem Grundsatz nulla poena sine culpa kann niemand für eine Tat bestraft werden, bei deren Begehen er ohne Schuld handelte. Gemäß § 20 StGB handelt derjenige ohne Schuld, der „bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“.
Als ich von dem schrecklichen Vorfall in Würzburg in der Zeitung las, kam mir sofort Georg Büchners „Woyzeck“ in den Sinn, der sich mit der (Un)Freiheit des menschlichen Willens befasst. Büchner bezieht sich in seinem Stück unter anderem auf den Fall des 1780 geborenen arbeitslosen Friseurs und Perückenmachers Johann Christian Woyzeck, der am 21. Juli 1821 seine Geliebte Johanna Woost erstach.
Auch Georg Büchners Dramenfragment mündet in einem Gewaltakt, in dem der Protagonist seine Geliebte ersticht. Aber inwieweit ist er für sein Handeln verantwortlich? Büchner hinterfragt die Schuldhaftigkeit des Täters und zeigt in seinem Sozialdrama präzise die Umstände, die schließlich zum grausigen Mord an Marie führen.
Der studierte Mediziner Georg Büchner, dessen Vater ebenfalls Arzt war, hat sich intensiv mit den medizinischen und juristischen Berichten zum Fall Woyzeck auseinandergesetzt. So werden beide Charaktere, sowohl der reale Johann Christian Woyzeck als auch Büchners Franz Woyzeck, von Stimmen verfolgt, und beide leiden unter extremer Geldnot, was sie dazu zwingt, zahlreiche Gelegenheitsjobs anzunehmen. Eine weitere und vielleicht wichtigste Parallele: die Untreue der jeweiligen Geliebten. Die literarische Figur und die reale Person haben mithin große Ähnlichkeit.
Als jemand, der sich sonst lieber mit Literatur befasst, welche sich den schönen Dingen des Lebens widmet, konnte ich bei der Lektüre des Stückes im Deutschunterricht meiner 11. Klasse mit diesem Werk und seinem in äußert prekären Verhältnissen lebenden Protagonisten zunächst nicht wirklich etwas anfangen. Es ist wahrlich kein besonders schön zu lesendes Stück – doch obwohl Woyzeck zweifellos ein Mörder ist, wuchs allmählich mein Mitleid mit ihm. Auch wenn man eigentlich an die Eigenverantwortung und Freiheit des einzelnen glaubt, beginnt man, sich zu fragen, inwiefern man es dem in Armut lebenden, ununterbrochen arbeitenden, unter psychischen Störungen leidenden, von seiner Frau betrogenen, von seinem einzigen Freund nicht ernst genommenen und von seinem Vorgesetzten verspotteten Soldaten verübeln kann, sich irgendwann nicht mehr unter Kontrolle gehabt zu haben. Mir wurde klar: Im Kern dreht sich dieses Drama doch um eine bis heute ungelöste Fragestellung: Ist der Mensch frei? Oder fremdbestimmt? Welches Prinzip erklärt unsere Wirklichkeit: Determinismus oder Voluntarismus?
Besonders konkret führt Georg Büchner die Diskussion zwischen Determinismus und Voluntarismus während der „Rasurszene“ aus. Sie zeigt Woyzeck bei einem seiner Nebenjobs. Er rasiert seinen Vorgesetzten, den Hauptmann, um ein wenig zusätzliches Geld dazu zu verdienen. Währenddessen ermahnt sein Vorgesetzter ihn immer wieder zur Langsamkeit und predigt ein tugendhaftes Leben. Er versucht außerdem, ihn bloßzustellen und verspottet ihn wegen seiner vermeintlich fehlenden Intelligenz. Erst als er Woyzeck aufgrund seines unehelichen Kindes Vorwürfe macht, beginnt der unterwürfige Protagonist, sich zu rechtfertigen. Woyzeck verweist auf seine finanzielle Situation und entgegnet, dass der vom Hauptmann geforderte moralische Lebensstil eine gewisse soziale und pekuniäre Stellung erfordert. „Sehn Sie, wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und eine anglaise, und könnt vornehm reden ich wollt schon tugendhaft sein.“ Der Argumentation des Hauptmanns, welcher der Meinung ist, dass der Mensch für sich selbst verantwortlich sei, stellt Woyzeck die Ansicht entgegen, dass der Mensch durch die äußeren Umstände unfrei sei und durch Faktoren wie Geburt, Herkunft, seine materiellen Spielräume und sein soziales Umfeld determiniert werde. Auch Woyzeck „wollt schon tugendhaft seyn“, wenn er nur die nötigen Mittel dazu hätte. Kurz: Man muss es sich leisten können, ein „guter Mensch“ zu sein.
Man muss Georg Büchner sicherlich nicht in allen seinen Ansichten zustimmen, und Woyzeck ist gewiss ein zu extremes Beispiel, als dass man daraus ein allgemein gültiges Urteil über die Willensfreiheit und Schuldfähigkeit des einzelnen ableiten könnte. Aber die Lektüre regt dazu an, über die eigene Position in diesen heiklen Fragen nachzudenken. Der eingangs erwähnte Mord in Würzburg, der mehreren Menschen das Leben kostete, zeigt leider, zu welch grausigen Taten Menschen auch heute noch unter gewissen Umständen getrieben werden können.
Wie Büchners Drama hätte enden sollen, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen; der Autor hinterließ bei seinem Tod 1837 nur ein Fragment. Dem echten Woyzeck, an dessen Schicksal der Autor sich orientierte, wurde zwar zunächst „periodischer Wahnsinn“ prädiziert. Schlussendlich wurde er aber doch als zurechnungsfähig eingeschätzt und zum Tode verurteilt: Am 27. August 1824 musste er sich in Leipzig vor 5000 Zuschauern auf dem Schafott präsentieren. Woyzeck sei, so das Urteil eines damaligen Geistlichen in seiner Predigt zwei Tage nach der Hinrichtung, ein „seltenes Beispiel der menschlichen Verdorbenheit“ gewesen. Wer Büchners „Woyzeck“ kennt, wird sich einem solchen Urteil nicht unbedingt anschließen wollen. Die Lektüre lohnt.
P.S. Neben der interessanten Fragestellung, die Georg Büchner aufwirft, besticht das Werk als Fragment auch durch seine Kürze. Das Lesen der rund 30 Seiten dauert wahrscheinlich kaum länger als eine Folge einer durchschnittlichen Netflix-Serie.