Beglückend, wenn langjähriges Arbeiten beendet wird (auch „vollendet“?). Richard Wagners Ring des Nibelungen (Regie Ewelina Marciniak) startete an den Bühnen Bern vor über drei Jahren als größtes je dort begonnenes Opernprojekt (Premiere Rheingold 12. Dezember 2021; Walküre 15. Januar 2023; Siegfried 14. April 2024) und konnte unter Nicholas Carters Dirigat glücklich abgeschlossen werden. Carter präsentierte mit Berner Symphonieorchester, verstärktem Ensemble und überragendem Chor (Leitung Zsolt Czetner) der Bühnen Bern eine Wagner-Interpretation, die hörenswert, oft detailgetreu und zugleich imposant ausfiel. Marciniak und ihr Team hingegen nutzten auch Götterdämmerung nicht, um ein grandioses Rheingold und eine weitgehend interessante Walküre weiterzuspinnen. Siegfried fiel noch schwächer aus, Götterdämmerung als Antwort auf die Frage, „was daraus wird“, fesselt ebensowenig: „Zu locker das Seil“, befinden die Nornen; dann freilich zu fest: „Es riß!“
Wer die vorangegangenen Teile des Berner Rings (noch) nicht kennt, wird diese Götterdämmerung für eine ordentliche Darbietung mit sehr guten bis extraordinären musikalischen Leistungen schätzen. Aus dem Wissen um die früheren Inszenierungsteile resultieren Enttäuschung und Unverständnis darüber, wie Frische und Tempo so verlorengehen konnten. Was im Rheingold innovativ und tatkräftig gelang, etwa das Auftreten von Bühnenarbeitern oder der ironisierende Einsatz von Büromobiliar, selbst Personendopplungen durch Tanzende oder sogar grelle Gewalt-Darstellungen, misslingt als wiederholte Selbstzitation: Siegfrieds Leichnam wird diesmal mit einem Blutschwall überschüttet, urgermanische Blood Bucket Challenge.
Entweder „der prangende Bau“, auf den man sich seit Rheingold freuen durfte, war als Gesamt-Ring nie intendiert (was irritierend wäre; die Gesamt-Regie war immer vorgesehen und der wichtigste Grund dafür, einen kompletten Ring einer Regie zu überantworten, mit Kontinuitäten an einem Haus) oder dieser Plan musste aufgrund zeitlicher Erstreckung abgeändert werden, aufgrund von Reflexionen des bisher Erarbeiteten, Aktualisierungen, notwendigen Zeitbezügen.
Dass die Welt seit Anfang 2022 aus den Fugen ist und eine konsistente Ring-Inszenierung aktuell nicht mehr möglich sei, also nicht nur der Weltenbrand als Schlussbild unvermeidlich ist, sondern auch den Nornen zuzustimmen ist, wäre diskutierenswert: „Zu End’ ewiges Wissen! Der Welt melden Weise nichts mehr.“ Dann wäre dieses Scheitern zeitbedingt und ließe sich die zunehmende Verengung der (Ring-)Welt bis hin zur Zerstörung der alten Weltordnung konsistent inszenieren. Beim Licht (Bernhard Bieri), das von strahlendstem Gold zu immer finstereren Nuancierungen verdüstert, gelingt dies, „der Götter Ende dämmert nun auf“. Ansonsten hat man nie den Eindruck, diese Inszenierung sei in irgendeiner Weise zeitgemäß nachgearbeitet worden, lediglich, dass ein großer Bogen und eine Verbindung sämtlicher Ring-Teile nicht gelang. Oder (ungewollt) zur Schau gestellt wird, dass nichts mehr zusammengehört und alles hin ist.
Dabei gibt es sogar in dieser Götterdämmerung Innovatives: Brünnhilde, von Claude Eichenberger überragend verkörpert und von minimalen Startschwierigkeiten abgesehen bravourös gesungen, wird als Leserin charakterisiert (in Walküre war L’Horizons Blutbuch kurz ihr Begleiter, nun sind es haufenweise aufgetürmte Bücher); ihr Felsgemach mit Ledercoach und Bücherwällen zum Think Tank. Brünnhilde versteht es, den lebenslustigen Siegfried (trefflich besetzt mit James Kee) ein wenig zu intellektualisieren, ma non troppo: „Mehr gabst du, Wunderfrau, als ich zu wahren weiß. Nicht zürne, wenn dein Lehren mich unbelehret ließ!“ Als Intellektuellenpaar passen beide – auch stimmlich – überragend zusammen, obgleich Kee manchmal blechern tönt; wirkungsvoller als etwa die (musikalisch auch gute) Konstellation von Stéphanie Müther und Jonathan Stoughton im letztjährigen Siegfried. Eichenberger und Kee, im Vorspiel, auch in der Täuschungsszene im ersten Aufzug, die Marciniak als brutale Vergewaltigung zeigt, dominieren Götterdämmerung.
Siegfrieds Liebesverrat motiviert die katastrophale Dramatik weit besser als Hagens Psychopharmaka oder Alberichs Fluch. Brünnhildes Verzweiflung wird aus ihrer Liebe zu Siegfried verständlicher, als wenn es nur um Rache an Hagen, Gunther oder Gutrune ginge: „Das ihr alle verrietet, zur Rache schreitet sein Weib“ übersteigt Rape-Revenge; Trauer und Selbsttötung gründen tiefer. Brünnhilde wird, Eichenberger geschuldet, die diese Partie erstmalig singt (in Rheingold und Walküre als Fricka), zur bestimmenden Hauptfigur.
Auch ihr etwas psychopathisch überzeichneter Antagonist, Christian Valle (im Rheingold Fasolt) überzeugt, sein „Ja denn! Ich hab’ ihn erschlagen! Ich – Hagen – schlug ihn zu Tod“ gerät erhaben. Cassandra Wright als Gutrune (singt auch dritte Norn) beeindruckt nicht nur stimmlich, auch schauspielerisch, ist keine stumm-dumme Schwester, die sich etwas sagen ließe. Jonathan McGovern hingegen gelingt es, ohne sängerisch verhalten oder passiv zu wirken, Gunther als antriebslosen Schlaffi zu verkörpern, der sich von seinen Geschwistern (vor)führen lässt. Diese musikalisch sehr überzeugende Familie wird freilich vom Bühnenbild (Mirek Kaczmarek), befremdlich wie lächerlich, beschädigt: Der Gibichungenpalast hängt voller aufgeschnittener Schweine und anderem Schlachtfleisch. In einem offenen Wasserbecken, alternativer Think Tank, befindet sich ein toter Kopffüßer, über den sich Hagen hängt, als erwarte er sich vom Krakenorakel Rat. Alles wirkt nicht dämonisch, sondern nur, als wären alle unbeabsichtigt im Kühl- oder Zerwirkraum ihres Jagdschlosses gelandet.
Noch abgehangener und einfallsloser gerät die Bühne im zweiten und dritten Aufzug, wie in Walküre und Siegfried hängen schwarze Gegenstände von der Decke, manchmal Seilartisten, vor schwarzen Plastiksäcken oder Spiegelwänden. Solches Dry Age bekommt schlecht. Einen Weltenbrand oder brennendes Walhall gibt es nicht, alle szenischen Herausforderungen des Librettos werden vermieden. So reitet Brünnhilde nicht gut germanisch in die Flammen, sondern vergiftet sich und verdämmert auf einem überdimensionierten transparenten Kunststoffsitzsack; den Giftcocktail reicht ihr in helvetischer Sterbehilfemanier Grane selbst. Merci und Adieu! Kein gemeinsames Verbrennen mit Siegfried. Kein Liebestod. Keine heldische Apotheose. Keine Erlösung. Siegfried im Bodybag distanziert daneben. Auch kein Wasser, obwohl das Stadttheater nur wenige Meter von der Aare (die später zum Rhein wird) entfernt steht, die Rheintöchter arbeitslos („Zugleich ist vom Ufer her der Rhein mächtig angeschwollen und hat seine Flut über die Brandstätte gewälzt.“ lautet Wagners Regieanweisung).
Was zuvor Perspektiven eröffnete (Schläger- und Zuhälter-Mode, Nibelungen als anzugtragende Bürosklaven, sportelnde Walküren in Turnschuhen etc.) wirkt nur noch abgeschmackt (Kostüme Julia Kornacka): Brünnhildes Yogalehrerinnen-Kombi, hierauf schwarze Latexkleider; die Cowboy-/Zorro-Verkleidung, die Grane, Gunther und Siegfried anlegen, um sie zu täuschen; Siegfrieds Biker-Montur; Lack und Leder bis hin zu schwarzen BDSM-Hauben; immerhin muss so kostümiert nur getanzt werden (Choreographie Mikołaj Karczewski).
Siegfried wird mittels Messer abgestochen; Gutrune ersticht, begierig nach dem Ring, den sie Hagen entreißt („Zurück vom Ring!“), umgekehrt den Halbbruder. Keine librettogemäße Immobilität („beugt sich, im Schmerz aufgelöst, über Gunthers Leiche; so verbleibt sie regungslos bis zum Ende“), stattdessen Rache für Siegfried und Gunther. Konsequent, ist weibliche Ermächtigung doch das Beste, was über diese Götterdämmerungs-Regie zu sagen ist. Was zuvor verhandelt wurde – Klassenkampf, Kapitalismuskritik, soziale Gerechtigkeit, Machtverhältnisse – geht verloren.
Musikalisch verdämmert nichts; Susanne Gritschneder als Waltraute (singt zusätzlich die erste Norn; die zweite ist mit Marcela Rahal besetzt, diese auch Floßhilde) macht es glänzend, ebenso wieder Evgenia Asanova, die wie im Rheingold als Wellgunde auftritt (Woglinde diesmal Patricia Westley). Lawson Andersons Alberich schert etwas aus, kann nicht heranreichen an die Darstellung, die diesem in Rheingold durch den überragenden Robin Adams verliehen wurde; das liegt aber nicht allein an ihm: Alberich ist angezogen wie zuvor in Siegfried Mime! Trotz vieler Rollendebüts ist musikalisch kaum etwas zu kritisieren.
Damit endet die Berner Ring-Inszenierung schwächer, als 2021 absehbar war. Musikalisch gelingt vieles erstaunlich gut. Das Berner Symphonie-Orchester schafft es, die Dynamik und Intensität der Ring-Musik ebenso wie leise und intime Momente auszugestalten, dies oft in perfekter Abstimmung mit den Singenden, nie werden diese übertönt. Deren gute Besetzung, mitunter Weltklasse (Adams als Alberich, Ebenstein als Mime, Stoughton und Kee als Siegfried, allen voran Eichenberger als Fricka und besonders Brünnhilde), hat es nicht immer leicht, gegen Regie, Bühnenbild, Kostüme und Choreographie, die ihnen teilweise entgegenarbeiteten, anzukommen. Trotz solchen Erfolgs steht alles auf Götterdämmerung: Carter wird Bern Richtung Stuttgart verlassen, als neue Chefdirigentin der Oper der Bühnen Bern ist Alevtina Ioffe vorgesehen. Die Frage, „was daraus wird“, bleibt also offen.