„Werckmeister Harmonien“ von Thom Luz an der Berliner Staatsoper
„Werckmeister Harmonien“ von Thom Luz an der Berliner Staatsoper
Berlin, 25. Mai 2022, Bernhard Metz

Außerhalb der alten Musik, speziell der des 17. und 18. Jahrhunderts, ist das Problem der Temperiertheit von Instrumentenstimmungen wenig relevant. Obwohl Bachs Wohltemperiertes Klavier, durch Hans von Bülow als „das alte Testament“ der Klavierliteratur gepriesen, neben Beethovens Sonaten als ihrem neuen, weltberühmt ist und die Stimmungsproblematik schon im Werktitel trägt und erheblich zur Verbreitung einer nichtreinen Stimmung von Tasteninstrumenten beigetragen hat: Das Wohltemperirte Clavier oder Præludia, und Fugen durch alle Tone und Semitonia

Bis ins 17. Jahrhundert war eine Vermittlung zwischen der Stimmung auf Natur- oder Mitteltönen für Vokal- und Instrumentalmusik unwichtig, erst mit dem Aufkommen von Tasteninstrumenten und der Ausbildung des Dur/Moll-Systems musste die reine Naturtonstimmung modifiziert werden. Einer der wichtigsten Musiktheoretiker war diesbezüglich der Organist und königlich-preußische Orgel-Inspektor Andreas Werckmeister (1645–1706), der in zahlreichen Schriften dafür eintrat, unreine oder temperierte Stimmungen auf Tasteninstrumenten umzusetzen und mitteltönige Stimmungen so zu modifizieren, dass durch unterschiedliche Gestaltung der Quinten alle Tonarten des Quintenzirkels harmonisch spielbar werden; aus der reinen Oktavaufteilung wird eine auf zwölf ungleiche Teile distribuierte Oktave mit Halbtönen.

Für Musikhistoriker (Werckmeister-Temperierung vs. mitteltönige Stimmung) ist das Thema hochinteressant, sogar für die ironischen Überzeichnungen lebensfremden Spezialistentums. In Jeffrey Eugenides’ „Early Music“ etwa geht es um einen wegen eines Cembalokaufs überschuldeten Musikwissenschaftler, der seine Doktorarbeit über Stimmungen in der Zeit vor Bach nie abschließt und ein prekäres Leben führt. Zugleich kommt jede Person, die zu Hause ein Klavier stehen hat, um regelmäßiges Nachstimmen kaum herum.

Klavierstimmer garantieren nicht nur, dass es im trauten Heim ordentlich klingt und Kammermusik stimmig ausfällt, sie ermöglichen auch Welttourneen gefeierter Pianostars. Im Unterschied zu den anderen Musikern stimmen diese (auch Organisten, Cembalisten etc.) nicht selbst, sondern lassen stimmen; müssen ortsabhängig nicht nur mit fremden Instrumenten, sondern auch mit deren Einrichtung durch andere zurechtkommen. Der Stimmer sollte um Ausgewogenheit, Moderation, Stimmhaltigkeit bemüht sein. Anonym hält er sich bescheiden und geduldig dienstbereit im Hintergrund und sucht perfektionistischen Verbesserungswünschen, wie etwa von Grigory Sokolov überliefert, mit Langmut zu begegnen. Früher vielleicht selbst pianistische Hoffnung oder aufsteigender Stern am Pianohimmel, ist er nun, in der hinteren Reihe situiert, unsichtbar geworden.

Es mag mit solchen Besonderheiten und der grundsätzlichen Ausrichtung dieses Berufs zu tun haben, dass Schweizer für das Metier des Stimmers ein Faible zu haben scheinen. Der Philosoph Peter Bieri schrieb unter Pseudonym einen Roman über die Befindlichkeiten eines Steinway-Angestellten rund um das Mexiko-Platz-Milieu in Berlin-Zehlendorf (Pascal Merciers Der Klavierstimmer); Thom Luz, aus Zürich gebürtig und seit Jahren als Theatermacher (Bühnenbild, Regie, Text, Schauspiel, Musik und mehr) in Basel, München und anderswo hoch angesehen, hat unter dem Titel Werckmeister Harmonien ein tiefergehendes Stück für die Staatsoper Unter den Linden erarbeitet, das in Kooperation mit dem Zürcher Theaterhaus Gessnerallee am 24. Mai uraufgeführt und bis zum 29. Mai sechsmal gespielt wurde. Nicht auf der großen Bühne, sondern als szenisch begleitete Musikaufführung bzw. musikalisch unterlegtes Theaterstück mit Annalisa Derossi, Mara Miribung, Daniele Pintaudi, Samuel Streiff und Mathias Weibel (dieser auch mit der musikalischen Leitung betraut) im Apollosaal. Man könnte sogar von Kammeroper sprechen, selbst dieses Genre erfüllt das 90-minütige ohne Pause durchgespielte Stück. Ein musikalisches Kammer-Spiel.

Neben den unvermeidlichen Anekdoten und erheiternden Innenansichten aus dem Leben eines Stimmers, inklusive Sottisen gegen den Hausherrn („Barenboim möchte vor allem Flexibilität in den Obertönen, alles ein bisschen plötzlich, wenn es geht“), enthält Werckmeister Harmonien musikhistorische und -theoretische Reflexionen und verdichtet die Aufgaben der Klavierstimmung zur modernen Grundproblematik schlechthin: Spannungen aushalten, Kompromisse eingehen, am Nichtperfekten unglücklich werden, Ideale niemals erreichen, zugleich Glück empfinden.

Dieses Dilemma (eine perfekte Stimmung kann es nicht geben, nur Annäherungen an sie und unendliche Kompromisse zwischen idealer mathematisch reiner und temperierter Stimmung) wird auch in einem Robert-Walser-Zitat deutlich, das Luz anführt: „Mir fehlt etwas, wenn ich keine Musik höre, und wenn ich Musik höre, fehlt mir erst recht etwas.“ Der Stimmer stimmt nicht nur mit Stimmgabel oder -gerät, auch nach Gehör und Gefühl; darf sich auf Berechnung und genaue Messung nicht verlassen, muss intuitive Entscheidungen treffen, die niemals „rein“ ausfallen, besonders bei Instrumenten mit kurzen Seiten und hohem Oktavenumfang. Entsprechend steht im Apollosaal ein Dutzend Pianos, Typ eichenfurniertes Pfarrsaalmobiliar, ein Cembalo wird hereingetragen und bestiegen, die Instrumente werden herumgeschoben, traktiert, auseinandergebaut, gestimmt, intoniert, aber auch gespielt.

Während Stimmenlärm zu vernehmen ist und ein fingiertes Publikum immerzu Einlass begehrt und auf später vertröstet wird (alles noch nicht fertig und bereit; was es nie sein wird), versuchen alle unter Zeitnot ihre Arbeiten abzuschliessen, reflektieren gewitzt über Miseren des Lebens, machen aber anders als ein ähnlicher Bühnenklassiker über randständige Musikerexistenzen (Patrick Süskinds Kontrabaß) gemeinsam Musik. Bei Luz gibt es nicht nur einen larmoyanten Monolog und eine einzige Person, konsequent wird alles fünfstimmig verteilt, die Personen musizieren, spielen, sprechen, singen, stimmen.

Schauspielend erinnern sie in Arbeitsoveralls, Hausmeisterkitteln und -schürzen ans Improtheater und die Nichtkostümiertheit diverser Innenansichten aus Arbeitsmilieus, sprechen das Publikum an, schreien, wirbeln herum, wenn auch der erweiterte Bühnenraum mitbespielt wird. Ulk zwängt sich zwischen Momente übergroßer Schönheit, etwa wenn einige Charles-Ives-Stücke wie die Quarter-Tone Pieces for two Pianos oder Memories auf leicht verstimmten sowie auch zueinander unterschiedlich gestimmten Instrumenten erklingen, zum Stimmen kopfüber in Instrumente hineingekrochen wird oder die liegende Derossi auf einem stützenlosen Cembalo das C-Dur-Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier anspielt und mit der Stirn den Marmorboden berührt. Klamauk und gelehrter Diskurs, Blödelei und Perfektion, Verzweiflung und Freude.

Luz erläutert: „Die Vorgaben der Natur korrelieren nicht mit den Halbtonschritten unserer Klaviaturen. Es ist wie so oft bei großen Theorien: Sie erklären die Wirklichkeit nie vollständig und lassen sich oft nur mit Drücken und Würgen umsetzen. […] Man hätte gerne alles rein und ordentlich, aber diese Vorstellung passt nicht in die Wirklichkeit. […] Man denkt immer, ein Klavier zu stimmen sollte in einer Viertelstunde möglich sein, aber es ist ein philosophischer Vorgang, weil man Unvereinbares miteinander vereinen muss. Das in der Natur mögliche Klangspektrum lässt sich nicht ohne Verluste in das Halbton-System hineinpressen, das sich die Menschen ausgedacht haben.“

Berückend gelingen zwei Schütz-Stücke aus der Geistlichen Chormusik, „Sammlet zuvor das Unkraut“ und „Er wird sein Kleid in Wein waschen“; Mara Miribung singt mit berührendem Alt. Es gibt Shanties und Mitschunkel-Songs, popkulturelle Referenzen aus dem off eingesungen („Hooked on a Feeling“, seit Tarantinos Reservoir Dogs selbst Klassiker), etwas von Purcell und von Werckmeister. Das musikalische Programm reicht weit und fügt sich zum gelungenen Nachtstück, emotional anrührend, zugleich intellektuell komplex, delirierend, entgrenzt, lustig. Champagner-Stimmung.

Zur Atmosphäre trägt auch die späte Uhrzeit (Beginn 22 Uhr) bei, was gut zum indiskreten Einblick hinter die Kulissen und fingierten Enthüllungen („Grimaud möchte nicht darüber reden“) passt. Einer von drei Kronleuchtern hängt wie zu Wartungszwecken abgesenkt, Leuchtmittel werden ein- und ausgeschraubt, zu Beginn sind die Pianos unter Plastikfolien verhüllt und stehen am Rand, der Apollosaal wird als Lagerraum imaginiert, der sich zum Konzertsaal wandeln muss.

Der Kunstraum wird vielfältig ausgeweitet: Werckmeister Harmonien inszeniert die Zwischenzeit, solange Publikum und Solist noch nicht anwesend sind und die unsichtbaren Geister ihren Aufgaben nachgehen, nach dem einen Konzert und vor dem nächsten. Zugleich geschieht dies im Herzen des Opernhauses (anders als der zerstörte und wiederaufgebaute große Saal mit Zuschauerraum blieb der Apollosaal – die Lindenoper ist mit großen Lettern APOLLINI ET MVSIS gewidmet – bis heute nahe am Urzustand).

Ein Bühnenerfolg, wie ihn der Kontrabaß in den 1980ern mit Schauspielern wie Nikolaus Paryla oder Walter Renneisen darstellte, wird mit Werckmeister Harmonien nicht zu realisieren sein, zu sehr ist das Ganze ortsbezogen. Zu sperrig ist auch das Thema. Zugleich macht diese Randständigkeit den Reiz, auch die Schönheit des Stücks und seiner Aufführung aus. In den besten Momenten werden Genregrenzen zwischen Sprechtheater, Musiktheater, konzertanter Aufführung und musikhistorischem und -theoretischem Vortrag aufgebrochen und interessante Einsichten nicht nur in die Musik ermöglicht, sondern der unsichtbare Stimmer, der auch in Selbstdarstellung zwischen Extremen schwankt (Ich bin niemand/Ich bin Gott) als Chiffre moderner Existenz erkennbar. Das Grundproblem, dass es Reinheit kaum geben kann und immer Kompromisse einzugehen sind, wird auf facettenreiche Weise unterhaltsam reflektiert.