Simone Young in der Philharmonie de Paris
Simone Young mit Brahms und Berg in der Philharmonie de Paris
Paris, 3. November 2021, Raphael Haghuber

Simone Young war vielen französischen Konzertbesuchern an diesem Abend in der Philharmonie de Paris kein vertrauter Name, wie mehreren Unterhaltungen vor dem Beginn zu entnehmen war. Das überrascht einerseits, ist sie doch längst eine zuverlässige Größe auf großen Opernbühnen der Welt und zudem immer wieder Gast bei diversen Symphonieorchestern. Andererseits wird mit Blick auf Youngs Lebenslauf schnell deutlich, dass sie eigentlich nie nach den höchsten Sternen am Firmament greifen konnte, zumindest was Chefposten bei der absoluten A-Riege der Klangkörper anbelangt. Spätestens nach diesem Konzert kann man darüber nur den Kopf schütteln, denn die australische Dirigentin leitete die Aufführung von Brahms' Ein deutsches Requiem auf die inspirierendste und souveränste Weise, die man sich nur vorstellen kann. Und wer das Glück hatte, Simone Young schon öfter dirigieren gesehen zu haben, weiß, dass dieses hohe Niveau kein Einzelfall war, sondern bei ihr die Regel darstellt. Nun gab sie beim Orchestre de Paris ein heftig bejubeltes Konzert mit einem Programm, das durchaus die Gefahr in sich trug, sperrig zu werden.

In der ersten Konzerthälfte brachte eine kleinere Besetzung des Orchesters Alban Bergs Sieben frühe Lieder im Verbund mit der Sopranistin Elza van den Heever zu Gehör, und es war beeindruckend, endlich einmal wieder eine große Opernstimme in diesem Repertoire zu erleben. Van den Heever tauchte tief in die rätselhaft schillernden Welten dieser Miniaturen ein, empfindsam, aber niemals kitschig begleitet von den Musikerinnen und Musikern unter der Leitung von Simone Young. Der Klang wurde durchaus analytisch aufgefächert, man vernahm ungeahnte Details, aber niemals ging diese ziselierte Feinarbeit auf Kosten des Voranschreitens der Musik. Sopranistin und Dirigentin schienen wie aus einem gemeinsamen Atem zu schöpfen.

Nach einer Umbaupause nahmen dann das aufgestockte Orchester sowie der Chœur de l'Orchestre de Paris ihre Plätze ein, um eines der eigenwilligsten und persönlichsten Werke der geistlichen Musik darzubieten: Das auf vom Komponisten selbst ausgewählten Bibelpassagen basierende Deutsche Requiem. Chorleiter Lionel Sow gebührt ein großes Lob für die Einstudierung: Die Sprachbehandlung war überwiegend idiomatisch, und es herrschte eine klare Vorstellung von Brahms' Klangsprache. Ist man deutsche Rundfunkchöre gewohnt, die ihre romantische Sonorität in der Regel auf einem satten Bassfundament aufbauen, musste man sich hier an einen deutlich helleren, ja sogar jugendlich wirkenden Klang gewöhnen, der aber perfekt zur Konzeption der Dirigentin passte, doch dazu später. Jedenfalls erfüllten die Sängerinnen und Sänger die Partitur mit Leben, zeigten die ganze Palette von Innigkeit bis Dramatik, und man konnte ihnen ihre Begeisterung von den Gesichtern ablesen. Ebenso agil und beredt spielte das Orchestre de Paris: Die Harfen waren im transparenten Gesamtklang gut hörbar, das Blech setzte beeindruckend präzise Akzente, das Holz verströmte Trost und Licht in seinen Kantilenen und die Streichergruppen gossen die Schattierungen, den Schmelz und die Glut der Komposition sehr überzeugend in Klang. Neben Elza van den Heever, die im Fünften Satz ihre Stimme wie schon in den Berg-Liedern zum Leuchten brachte, hinterließ auch der Bariton Wolfgang Koch einen großen Eindruck: Er erzeugte durch seine stimmliche Autorität und sinngebende Diktion eine Intensität prophetischen Ausmaßes.

Doch all das wären nur Häppchen, Einzelteile, die noch lange keine überzeugende Gesamtdarbietung ausmachen würden. Der Lorbeerkranz muss der Dirigentin des Abends aufgesetzt werden, denn selten hat den Rezensenten eine Aufführung oder Aufnahme der Brahmsschen Totenmesse derart unter Hochspannung gesetzt. Simone Young dirigierte nicht einfach nur, sie belebte den Gesamtapparat, sie formte Klangkathedralen von erlesener Schönheit und vermied dabei eben die wohl größte Gefahr, die zum metaphorischen Tod dieses Werks führen kann: das Schleppen. Young hielt das Geschehen stets im Fluss und ließ auch die dramatischen Passagen, wie beispielsweise die großen Fugen oder die Darstellung der Posaunen des Jüngsten Gerichts, zur besten Entfaltung kommen. Die Abstimmung zwischen Chor und Orchester gelang fabelhaft, und allen Beteiligten schien das Deutsche Requiem ein tiefes Anliegen zu sein. Aber die Dirigentin, ganz die opernerprobte Koordinatorin, war die Impulsgeberin all dieser Prozesse, immer mit transparenter Schlagtechnik, egal ob im cremigen Legato oder bei der heftigen Attacke. Stets wusste Simone Young, wo sie gebraucht wurde, ihr ganzer Körper war gelebte Musik, war pure Inspiration. Und so nahm dieses Werk ungemein plastisch Gestalt an; eine Überzeugungstat bei einer Musik, die sonst so oft in gepflegter Langeweile zerfließt. Die Klangkörper musizierten mit voller Hingabe, und das Publikum war folglich begeistert und spendete erregten Applaus.

Es wäre jetzt an der Zeit, diese Blutsmusikerin unter den Orchesterleitern endlich zur Chefin eines Weltklasseorchesters zu küren. Viel zu lange hat sie sich als Frau in einer Männerdomäne an der Engstirnigkeit derjenigen abarbeiten müssen, die gerne alles so belassen würden, wie es ist. Und dabei drängt gerade schon die nächste Generation an Dirigentinnen auf den Markt, immerhin in größerer Zahl als bisher. Simone Young war eine ihrer Wegbereiterinnen, aber es wäre wünschenswert, wenn sie die Früchte ihres Wirkens noch viel unmittelbarer selbst ernten könnte.