Das Neujahrskonzert möge die Politiker der Welt daran erinnern, dass Musik ein wesentlicher Bestandteil des Lebens und der Erziehung sei, spreche sie doch den Menschen rational und emotional gleichermaßen an. Das werde gegenwärtig allerdings kaum mehr wahrgenommen, so Daniel Barenboim auf der Pressekonferenz der Wiener Philharmoniker im Hotel Imperial am 29. Dezember.
An Aufmerksamkeit fehlt es gerade diesem Konzertereignis gewiss nicht. Seit vielen Jahren wird es in alle Welt übertragen (heuer in knapp 100 Länder), und viele Millionen Menschen, die sonst kaum Kontakt zur Welt klassischer Musik haben, werden das neue Jahr mit den Klängen der Strauß-Familie eröffnen. Das Neujahrskonzert ist ohne Frage das größte und erfolgreichste Klassik-Event der Welt. Ob Barenboims Wunsch sich erfüllt, ist dennoch fraglich. Die österreichische Regierung zum Beispiel sagte ihre Teilnahme am Konzert im Goldenen Saal geschlossen ab – der Besuch sei in der gegenwärtigen Situation ein „falsches Zeichen“. Da passt es ins Bild, dass es für Veranstalter immer schwieriger gemacht wird, den künstlerischen Betrieb aufrecht zu erhalten, und für das Publikum, in den Genuss einer dieser Aufführungen zu kommen. Unübertroffen dürften derzeit die Sicherheitsvorkehrungen der Wiener Staatsoper sein, die nur betreten darf, wer die „1G-Booster-Plus“-Regelung (so das bürokratische Wortungetüm) erfüllt, also dreifach geimpft oder zweifach geimpft und genesen ist und zudem einen PCR-Test vorweisen kann. Das Haus darf unter dieser Bedingung mit 2000 Zuschauern besetzt werden. Im Musikverein nebenan gelten wieder andere Gesetze: Die Philharmoniker spielen ihre drei Konzerte zum Jahreswechsel vor lediglich 1000 Zuschauern, weshalb keine dritte Impfung oder Genesung nachgewiesen werden muss. Apart dabei ist die Verteilung der tausend Musikfreunde im Konzertsaal. Sie sitzen nicht etwa gleichmäßig verteilt, um Abstände einhalten zu können. Nein, im Parkett und den Logen drängen sich die Besucher so dicht wie nur je, wohingegen die Ränge unbesetzt bleiben. Dient dergleichen tatsächlich zur Eindämmung einer Seuche? Man darf es bezweifeln. Und grundsätzlicher noch: Wenn alle Besucher negative PCR-Tests vorweisen müssen, was tatsächlich sinnvoll sein mag, wie ist es dann zu rechtfertigen, ungeimpfte Kunstfreunde auszuschließen? Sollte Kunst nicht jedem Menschen gleichermaßen zugänglich sein, wenn doch nachgewiesenermaßen keine nennenswerte Gefahr für die Gesundheit anderer von ihm ausgeht?
Immerhin, anders als 2021 – Riccardo Muti musste vor einem gähnend leeren Haus dirigieren – kann das Konzert mit Publikum stattfinden. Darüber freuen sich Daniel Barenboim und Daniel Froschauer, der Vorstand des Orchesters, gleichermaßen. Die insgesamt fünfzehn Programmpunkte (neben Kompositionen der Strauß-Familie sind auch solche von Josef Hellmesberger und Carl Michael Ziehrer vertreten) weisen einige lose thematische Schwerpunkte auf: Gehuldigt wird dem Orient („Tausend und eine Nacht“, „Persischer Marsch“), der Mythologie („Phönix-Schwingen“, „Sirenen-Polka“) und der Presse („Kleiner Anzeiger“, „Morgenblätter-Walzer“). Solche Gruppierungen seien beim Erstellen des Programms hilfreich, das wegen der Live-Übertragung ja sehr genau getaktet sein müsse, erführ man im Hotel Imperial. Für den Zuhörer spielen sie gewiss eine untergeordnete Rolle. Der will sich von der süßen und zugleich schmerzlichen Seligkeit eines Walzers berühren, von einer schneidigen Polka animieren oder einem schwungvollen Marsch mitreißen lassen. Dass die Wiener Philharmoniker diese Musik, die so leicht klingt und so schwer zu spielen ist, beherrschen, wie kein anderes Orchester, versteht sich. Hier sind diese phantastischen Musiker in ihrem Element. Barenboim, der das Neujahrskonzert nach 2009 und 2014 bereits zum dritten Mal dirigiert, hob die Kreativität dieses so speziellen Orchesters hervor, das natürlich auch ohne ihn im Stande sei, zusammenzuspielen und den Takt zu halten. Entscheidend sei vielmehr, wie der Dirigent die kreative Energie der Musiker bündle und was von ihm aus dazukomme.
Dass Barenboim bei den Proben rhythmische Präzision und weichen Klang von den Philharmonikern eingefordert habe, wie Daniel Froschauer ausführte, davon konnte man bei der Voraufführung des Neujahrskonzertes am Morgen des 30. Januar im noch weitgehend ungeschmückten Goldenen Saal einen Eindruck gewinnen. Voll und perfekt gerundet der Klang, nie plump auftrumpfend, immer delikat und einschmeichelnd, so kam der „Phönix-Marsch“ von Josef Strauß als schmissige Konzerteröffnung daher. Leichtfüßig dann, auch im Kontrast zum ebenfalls mit Schmackes musizierten „Persischen Marsch“, der Galopp „Kleiner Anzeiger“ von Hellmesberger. Gemütvoll klang Carl Michael Ziehrers „Nachtschwärmer“-Walzer mit weinseliger Gesang- und Pfeifeinlage der Philharmoniker, denen immer wieder wunderbar klangsinnliche Momente gelangen wie zum Beispiel die von Solo-Cello und Holzbläsern mit großer Delikatesse gestaltete Einleitung zum Walzer „Tausend und eine Nacht“. Das Walzer-Thema selbst hätte man sich dann noch etwas beschwingter, musikantisch freier und differenzierter in der musikalischen Ausformung gewünscht, hier wie bei den anderen großen Walzern dieses Konzertes. Könnte die wunderbare Einleitung zu den „Sphärenklängen“, die Josef Strauß 1868 auf einem Ball der Medizinstudenten vorstellte, nicht zarter, fragiler, kurzum: sphärischer erklingen? Und müsste nicht, wenn das Walzerthema von den Streichern erneut emporgetragen wird, um dann ein letztes Mal abwärtszufallen, müsste diese Melodie nicht auch von schmerzlicher Innigkeit untergründet sein, von Glück und von Abschied erzählen? Wer noch im Ohr hat, wie Christian Thielemann diesen Walzer beim Neujahrskonzert 2019 gestaltete, wird kaum umhinkönnen, Barenboims Interpretation vergleichsweise müde zu finden.
Nein, ein musikalisch herausragendes Ereignis wird das diesjährige Neujahrskonzert wohl nicht werden, so viel immerhin darf man nach dem Besuch der Voraufführung vermuten. Aber bestimmt ist die Spannung am 1. Januar, wenn das Orchester nicht nur vor den tausend Zuhörern im Saal, sondern vor einem Millionenpublikum spielt, ungleich größer, und der reiche Blumenschmuck, den die Wiener Stadtgärten im Goldenen Saal bis dahin so kunstvoll arrangiert haben, wird fehlende Walzerseligkeit zwar nicht ganz ausgleichen können. Aber sehr schön wird es auch heuer bestimmt wieder sein, das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker.