Zwei Premieren beim Bayerischen Staatsballett
Das Bayerische Staatsballett ist mit zwei Neuproduktionen zurück auf der Bühne
München, 30. Mai 2021, Christian Gohlke
Zwei Premieren erarbeitete das Bayerische Staatsballett während der endlosen Monate des Lockdowns. Beide wurden per Live-Stream gezeigt: „Paradigma“ Anfang Januar, „Schneesturm“ im April. Jetzt sind beide Kreationen auch im Münchner Nationaltheater zu erleben. Leicht wird einem der Zugang in dieses herrliche Haus freilich nicht gemacht. Am Eingang wird vom kohortenstarken Einlasspersonal nicht nur die Karte kontrolliert, sondern auch der Corona-Test oder der Impfpass und gleich mehrfach der dazugehörige Personalausweis. Die äußerst lästige FFP2-Maske ist dennoch zu tragen, auch während der Vorstellung selbst, obwohl die Abstände zwischen den Besuchern im nur zu einem Drittel belegten Zuschauerraum ziemlich groß sind. Welcher Schutzmaßnahme misstrauen die Allgewaltigen der Seuchenbekämpfung hier eigentlich, fragt man sich, indem man die starkbewehrte Staatsoper betritt: Den Tests? Den Masken? Dem Sicherheitsabstand? Man wird es wohl nie erfahren und nimmt schließlich ohne Murren alles hin, um endlich wieder einen Ballett-Abend mit freiem, von keiner Kamera gelenktem Blick erleben zu können.

Wie schon bei der Online-Premiere, so überzeugte von den drei Choreographien, die unter dem Titel „Paradigma“ zusammengefasst worden sind, „Broken Fall“ von Russell Maliphant (uraufgeführt 2003 in London) am wenigsten – nicht zuletzt, weil sich im Saal der Eindruck vermittelte, die drei Solisten (Jeanette Kakareka, Jonah Cook und Jinhao Zhang) hätten mehr Zeit zum Proben gebraucht, um fließendere Übergänge und ein insgesamt geschmeidigeres Zusammenspiel erarbeiten zu können. Weit eindrucksvoller gelang Sharon Eyals „Bedroom Folk“, weil sich der durchgehende Beat, der das ganze knapp halbstündige Stück trägt, dem Zuschauer tatsächlich als eine Art von unentrinnbarem Zwang vermittelt, zu dem die acht Tänzerinnen und Tänzer sich vor bald schwarzem, bald orangefarbenem Hintergrund immer neu formieren, geknechtet vom Gleichtakt dieser unerbittlichen Musik von Ori Lichtik. Nur gelegentlich treten einzelne Tänzer aus der Gruppe hervor, wie zum Beispiel Severin Brunhuber, der mit wundervoll geschmeidiger, androgyner Anmut einen Kontrapunkt zur harten Rhythmik setzt, ehe er doch wieder vom Kollektiv absorbiert wird, das zugleich bedrohlich und ekstatisch wirken kann. Eine glückliche Antithese zu diesem Werk bildet Liam Scarletts „With a chance of Rain“. Die Choreographie wurde 2014 vom American Ballet Theatre in New York uraufgeführt. 2019 wurde Liam Scarlett sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen, woraufhin seine Schöpfungen in aller Welt von den Spielplänen genommen wurden – obwohl die Untersuchungen gegen ihn ergebnislos eingestellt worden sind. Inzwischen ist Liam Scarlett tot. Er wurde gerade einmal 35 Jahre alt. Sein Kollege Alexej Ratmansky spricht auf seiner Instagram-Seite von Selbstmord und zitiert einen nicht genannten Ballettdirektor mit den Worten „I can’t program his ballets, I’ll be eaten alive.“ Ratmansky fügt hinzu: „Liam knew he has no future as a choreographer. That killed him. (…) This cancel culture is killing“. Es spricht für den Intendanten des Bayerischen Staatsballetts Igor Zelensky, sich an solchen übereifrigen Säuberungsaktionen nicht zu beteiligen und Scarletts Choreographie dem Münchner Publikum zu zeigen. Dass Scarletts Tod schmerzlich ist, wird doppelt empfinden, wer „With a chance of rain“ im Nationaltheater sieht – und hört! Dmitry Mayboroda, seit dieser Spielzeit fest an der Staatsoper engagiert, spielt die Préludes von Rachmaninow, zu denen getanzt wird, so farbenreich und differenziert, dass der Besuch der Aufführung allein darum lohnend ist. Das Prélude in Es-Dur op. 23 Nr. 6 bildet gleichsam den Mittelpunkt des Stückes. Emilio Pavan ist mit einem kurzen Solo zu sehen, das stark von der Formensprache des klassischen Tanzes geprägt ist. Dann allerdings gesellt sich Ksenia Ryzhkova zu ihm, und die Choreographie gönnt den beiden Solisten Raum für sprechende Interaktion: Sie umarmen sich, umschlingen einander zärtlich, spielen leichthin mit ihren Händen. So verbindet Scarlett immer wieder klassische Ballett-Posen mit Gesten, die an Alltagssituationen erinnern. Kleine Geschichten entstehen, die der Stimmung der Musik folgen. Elegant, wundervoll getanzt von den Solisten des Staatsballetts. Ein großer Eindruck!

An die Tradition der großen Handlungsballette, die in München mit Werken von John Cranko oder John Neumeier prominent vertreten sind, knüpft Andrey Kaydanovskiy mit seiner Arbeit über Alexander Puschkins Erzählung „Der Schneesturm“ an. Puschkin schrieb den kurzen Prosatext (er umfasst gerade einmal 15 Druckseiten und gehört zu den „Geschichten des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin) im Herbst 1830 auf seinem Landgut Bóldino. Damals grassierte die Cholera in Russland. Es gab Ausgangssperren, unter denen Puschkin litt, die es ihm aber ermöglichten, seine Erzählung in kurzer Zeit konzentriert niederzuschreiben. Knapp und schmucklos, in zumeist kurzen Sätzen erzählt er in oft ironisch gefärbtem Ton die Geschichte von Marja, die sich in den armen Vladimir verliebt. Da die Eltern aus Standesgründen gegen die Verbindung sind, beschließt das Paar, heimlich den Bund der Ehe einzugehen. Der titelgebende Schneesturm vereitelt den Plan: Vladimir verirrt sich, und Marja heiratet in der finsteren Kirche versehentlich einen anderen, dessen Identität sie nicht kennt. Verzweifelt zieht Vladimir in den Krieg gegen Napoleon (die Handlung spielt 1812) und kommt darin um. Später verlieben sich Marja und Burmin ineinander. Da beide jedoch bereits verheiratet sind, scheint eine eheliche Verbindung ausgeschlossen zu sein. Dann stellt sich heraus, dass es just dieser Burmin war, den Marja einst in der Finsternis geheiratet hat. Der Falsche ist also doch der Richtige, und was als Katastrophe erschien, entpuppt sich als glückliche Fügung. Ein wenig erinnert Puschkins Geschichte damit an die Naturkatastrophen, die wenige Jahre später von Adalbert Stifter erzählt worden sind. Auch sie scheinen ja der Ordnung der Dinge letztlich nichts anhaben zu können und sie mitunter sogar zu befördern.

So kurz die Geschichte ist, so schwierig mag es gewesen sein, sie mit den Mitteln des Tanzes zu erzählen. Nicht weniger als sechzehn Bilder nennt das Programmbuch, ohne dessen gründliche Lektüre dem Abend kaum zu folgen ist. Ksenia Ryzhkova tanzt die Rolle der Marja glaubhaft als junges, noch naives Mädchen, das den Eltern (Séverine Ferrolier und Matteo Dilaghi) gegenüber trotzig auftritt, sich ihrer Jugendliebe aber so zärtlich wie ungeschickt hingibt. In der Begegnung mit Vladimir scheint Kaydanovskiy anzudeuten, dass die Liebe der beiden vielleicht so groß gar nicht ist: Immer wieder fassen die beiden Solisten gleichsam aneinander vorbei ins Leere. (Puschkin weist in seinem Text ja darauf hin, dass Marja verliebt sei, weil sie „trotz ihrer Jugend schon viele französische Romane“ gelesen habe.) Vladimir scheint tiefer zu empfinden. Jedenfalls glaubt man Jonah Cook nach seinem anrührenden Solo die Verzweiflung über die durch den Schneesturm missglückte Begegnung mit Marja. Der Sturm selbst bleibt freilich viel zu harmlos. Hier findet der Choreograph kein Mittel, um das Zerstörerische der Naturgewalt spürbar zu machen. Die Flocken, die vom Bühnenhimmel wehen, wirken eher idyllisch als bedrohlich. Wenn sich Marja einige Jahre nach der Katastrophe dann in Burmin verliebt, ist sie vom Mädchen zur Frau herangereift, und auch ihr Partner ist erwachsener als der jünglinghafte Vladimir. Der Pas de deux zwischen Ksenia Ryzhkova und Jinhao Zhang gehört zu den gelungensten Partien des Abends. Die Annäherung der beiden auf einem Volksfest, das anlässlich der Heimkehr der Soldaten aus dem Krieg gefeiert wird, ist umständlich und sperrig, weil er seine rechte Hand in der Hosentasche trägt, um so den Ehering an seinem Finger zu verbergen. Rätselhaft bleibt das „groteske Stück auf einer kleinen Bühne“ (so das Programmbuch), das Burmins Vertrauter Belkin (Osiel Gouneo mit einem glanzvollen Kurzauftritt) mit drei Kriegsversehrten während des Festes aufführt. Problematisch ist aber vor allem die Musik, die Lorenz Dangel für diesen Abend geschaffen hat. Sie erinnert in ihrer scharfen Rhythmik ein wenig an Strawinsky, dann aber wieder, dick orchestriert, an spätromantische Filmmusik, mit zum Teil folkloristischen Elementen. Ihr Ausdruck ist dabei zumeist merkwürdig fahl und verhangen – obwohl die einzelnen Bilder doch ganz unterschiedlich gestimmt sind. Fahl und kahl bleibt auch die Bühne von Karoline Hogl, die in ihrer Skizzenhaftigkeit zum wie skizziert wirkenden Handlungsablauf von Puschkins Erzählung zwar stimmig ist, die aber bei ständig schwarzem Hintergrund den Blick bald ermüdet. Nein, ästhetisch ansprechend ist dieser Ballett-Abend nicht unbedingt. Und dennoch lohnt sich ein Besuch. Puschkins „Schneesturm“ stellt nämlich wichtige Fragen. Auch wenn Andrey Kaydanovskiys Choreographie nicht in jedem Punkt geglückt ist, regt sie doch zum Austausch an. Zur Vorbereitung sei die Lektüre des klugen, von Serge Honegger verantworteten Programmbuches dringend empfohlen. Ein Gespräch mit Freunden bei schwerem Wein sollte den Abend beschließen.