Zitat der Woche

Vier bis sechs Mal in der Woche erschien das „Morgenblatt für gebildete Stände“ zwischen 1807 und 1865. Es war mit einer Auflage von ungefähr 2500 Exemplaren eine der wichtigsten Zeitschriften im 19. Jahrhundert, in der fast alle großen Autoren jener Zeit publizierten. So bunt die Mischung aus Reiseberichten, Lebenserinnerungen, Gedichten, Rezensionen und Aufsätzen zu Kunst und Literatur auch war, – jede Ausgabe wurde mit einem Zitat eröffnet Diese Tradition greift das „Neue Morgenblatt für gebildete Stände“ in gelegentlich auf.

Der ersten Ausgabe, die am 1. Januar 1807 publiziert wurde, war ein Wort Fridrich Schillers vorangestellt, das als programmatisch für das neue und ehrgeizige Zeitschriftenprojekt der Cottaschen Verlagsbuchhandlung gelten darf:

Denn aus der Kräfte schön vereintem Streben
Erhebt sich, wirkend, erst das wahre Leben

Die Verse sind dem Dramolett „Die Huldigung der Künste“ entnommen. Es wurde zu Ehren von Maria Pawlowna, der Schwester des russischen Zaren, gespielt, die nach ihrer Vermählung mit Carl Friedrich von Sachsen-Weimar in die Heimat ihres Ehemannes übersiedelte. Zur „hohen Ankunft“ der russischen Fürstin wurde das „lyrische Spiel“ am 12. November 1804 am Weimarer Hoftheater aufgeführt. Schiller hat das kurze Stück (es umfasst insgesamt nur 248 Verse) in vier Tagen eher lustlos ausgearbeitet und es seinem Freund Körner gegenüber sogar als „Machwerk“ abgetan (22.11.1804). Gleichwohl stellte er es der neuen Ausgabe seiner Dramen voran, die damals im Entstehen begriffen war. Auch darum wurde der Text gelegentlich gar als Schillers „ästhetisches Testament“ (so Karl Hoffmeister 1842 in „Schillers Leben“) interpretiert, zumal es die letzte dramatische Arbeit des Dichters war.

Was zeigt Schiller nun in seinem Stück? „Landleute“ sind damit beschäftigt, einen mit Bändern geschmückten Orangenbaum in die Erde zu pflanzen. Sie wollen ihrer neuen Herrin einen freundlichen Empfang bereiten und wünschen sich, dass die Fremde rasch heimisch werde. Doch noch ehe die Adelige selbst anlangt, nähern sich aus der Ferne ein „Genius mit den sieben Göttinnen“, womit die drei bildenden Künste (Architektur, Skulptur, Malerei) und die vier redenden und musikalischen Künste (Musik, Poesie, Schauspiel, Tanz) gemeint sind. Diese edle Gruppe zieht durch die Lande, von „Völkern zu Völkern / Von Zeiten zu Zeiten“, weil sie „auf Erden ein bleibendes Haus“ sucht, um dann „ewig zu wohnen / Auf ruhigen Thronen, / In schaffender Stille / In wirkender Fülle“. Doch bislang wandern die Künste vergebens, sie „wandern und suchen findens nicht aus.“ Es ergibt sich ein Gespräch zwischen ihnen und den fleißigen, aber sorgenvollen Landleuten. So erfahren die Künste, dass die hohe Dame, die aus „fernem Lande“ herkommt, an „das neue Vaterland“ gefesselt werden soll, der Erfolg dieses Unterfangens aber eher fraglich sei. Was habe man einer so edlen Frau denn schon zu bieten? Wie könne man ihr die Fremde zur Heimat werden lassen? „Sag wie wir Sie binden, / Die Herrliche, in unsern stillen Gründen“, wollen die kleinmütigen Landleute vom Genius wissen. Der tritt daraufhin mit seinen Begleitern ans Proszenium. Die Fürstin, die man sich unter den Theaterbesuchern denken muss, wird nun von allen sieben personifizierten Künsten direkt angesprochen. Denn das „zarte Band“, das die Fürstin mit der neuen Umgebung verknüpft, ist ja schon gefunden: Es sind eben die Künste, die ihr hier wie dort, in St. Petersburg wie in Weimar vertraut sind, wie es der „schaffende Genius des Schönen“ zu berichten weiß. Am Ende des Stückes fassen die sieben Künste einander an der Hand und vereinigen sich zu ihrem Schlusswort:

Denn aus der Kräfte schön vereintem Streben
Erhebt sich, wirkend, erst das wahre Leben

Weil also die schönen Künste überall zu Hause sein können, durfte die kleine Musenstadt Weimar hoffen, der Zarentochter Maria Pawlowna, die in der Tat aus glanzvolleren Verhältnissen stammte, zur neuen Heimat werden zu können. Doch das kleine Stück weist über den höfischen Anlass, dem es seine Entstehung verdankt, hinaus: Heimat findet der Mensch überall, wo die schönen Künste gedeihen. Wo aber gedeihen sie? Der Genius weiß es:

Wo die Waffen erklirren
Mit eisernem Klang,
Wo der Haß und der Wahn die Herzen verwirren,
Da wenden wir flüchtig den eilenden Gang.
Wir hassen die Falschen,
Die Götterverächter,
Wir suchen der Menschen
Aufricht’ge Geschlechter;
Wo kindliche Sitten
Uns freundlich empfahn,
Da bauen wir Hütten
Und siedeln uns an.

Christian Gohlke

7. Oktober 2023